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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Verkehrte Welt: Da liefert nun gerade Riccardo Chailly, den man vor nicht allzu langer Zeit noch überhaupt nicht mit Bach (und schon gar nicht mit historisierenden aufführungspraktischen Aspekten) in Verbindung gebracht hätte, die womöglich schnellste Einspielung des Eingangschores der Matthäuspassion ab. Mit 5 Minuten und 38 Sekunden ist er noch deutlich rascher als McCreesh (6.06), und das, obwohl er doch ein weitaus größeres Ensemble bewegt: Rund 80 (Knaben-)Choristen und kaum weniger als 50 Instrumentalisten eilten im April 2009 im Leipziger Gewandhaus gen Golgatha. Der Rezensent ist wahrlich nicht gegen zügige Tempi bei Bach, aber das ist vielleicht doch etwas zu viel des Guten – selbst der theologisch sinnvolle Gedanke, dass Golgatha für die Menschheit Erlösung und damit etwas durchaus Erfreuliches bedeutet, rechtfertigt kaum eine so beschwingte Gangart unter dem karfreitaglichen Eindruck des sein Kreuz selbst zur Richtstätte schleppenden Jesus Christus. Im weiteren Verlauf geht es dann recht durchwachsen zu in dieser Matthäuspassion: In den Chorälen genehmigt sich Chailly sehr viel Gestaltungsfreiheit (Piano-Forte-Effekte, Zäsuren etc.) zwecks Vermittlung von Kirchenliedstrophen, die ursprünglich der Gemeinde auch inhaltlich wohlvertraut waren. Muss man heutzutage, pluralismusbedingt, wirklich erklärend mit dem Finger auf jeden Aspekt zeigen, obwohl Bach doch ohnehin schon so gut wie jede Strophe individuell vertont und damit bereits mit harmonischen Mitteln ausgelegt hat? Uneinheitlich präsentiert sich schließlich die Solistenbesetzung: Der Evangelist Johannes Chum fällt deutlich ab gegen so manchen seiner Fachkollegen, der diese Partie in den letzten Jahre eingespielt hat – zu unfrei näselt er sich durch seine Partie, um wirklich packend gestalten zu können. Hanno Müller-Brachmann wird mit seiner nicht mehr ganz taufrischen, in der Höhe nebengeräuschbelasteten Bass-Stimme der Christuspartie in Sachen Ausdruck nur bedingt gerecht, und Thomas Quasthoff präsentiert die Bassarien zwar sprachlich prägnant, aber dennoch recht eckig – unbelastete Nebensilben oder ähnliche rhetorisch-musikalische Nuancen scheinen ihm fremd. Ein Lichtblick dagegen Marie-Claude Chappuis: Diese u. a. auch durch die Zusammenarbeit mit René Jacobs geschulte Sängerin erweist sich als in jeder Hinsicht famose Interpretin der Altarien. Letztendlich ist das Für und Wider um Chaillys Matthäuspassion nicht eine Frage der Aufführungspraxis: Seine ausgesuchten Gewandhaus-Musiker vermögen sich durchaus in die historisierende Klang- und Artikulationswelt einzufühlen, was sie auch schon mit ihrer Version der "Brandenburgischen" bewiesen haben. Vielmehr wäre in weiterem Sinne nach der Angemessenheit bzw. der angemessenen Dosierung von Ausdrucksmitteln zu fragen vor dem Hintergrund dessen, was ausgedrückt werden soll. Und in dieser Hinsicht verstellt manch vordergründiger Effekt und manch klar hörbarer Mangel den direkten Blick auf die Sache.

Michael Wersin, 29.05.2010


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