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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Ein Meisterwerk in mustergültiger Darbietung: Daniel Reuss' Einspielung von Frank Martins Passionsoratorium "Golgotha" darf wohl ohne jeden Zweifel zu den interessantesten Chormusik-Neuaufnahmen der letzten Zeit gezählt werden. Dieses Lob ist einerseits freilich der Großartigkeit des Werks geschuldet: Die kompositorische Auseinandersetzung des höchst skrupulösen und zurückhaltenden Schweizer Pfarrersohns mit der Passionsgeschichte ist das spannende Dokument einer höchst überlegten zeitgemäßen Annäherung an das Phänomen "Passionsmusik" vor dem Hintergrund der großen Tradition dieses Sujets. Das Lob gilt andererseits aber auch unmittelbar der Interpretationsleistung der Solisten und Ensembles auf dieser CD: Nehmen wir nur die Altistin Marianne Beate Kielland, die die Méditation "Que dirai-je?" (ein Pendant zu Bachs "Ach! Nun ist mein Jesus hin") mit faszinierend gebündelter Ausdrucksdichte zu präsentieren versteht. Nehmen wir die vereinten estnischen und niederländischen Chorkräfte, die gemeinsam mit den Soli das vokal-instrumentale Tableau "Voici l’Agneau divin" zu überwältigender Größe steigern. Die konturierte Klarheit der Umsetzung erst bringt die monumentale Blockhaftigkeit des musikalischen Geschehens voll zur Geltung. Das hohe Niveau des heutigen professionellen Chorgesangs, hörbar geschult immer wieder auch an A-cappella-Literatur, ermöglicht die perfekte Vereinigung von schierer Klangkraft und vibratoarmer, tiefenscharfer Geradlinigkeit. Und hinter bzw. über alldem steht in dieser Aufnahme Frank Martins bewundernswerte Leistung: Texte aus allen vier Evangelien werden kontrapunktiert mit Auszügen aus den Werken des heiligen Augustinus. Der Passionsbericht erklingt nicht mehr in der standardisierten Form, wie wir ihn aus barocken Passionen kennen, in denen die Evangelisten stets exakt die biblischen Geschehnisse in ihrer festgelegten Abfolge wiedergeben. Frank Martin führt mit seiner Bearbeitung und Kompilation der biblischen Texte seine Hörer stärker noch vor allem zur Person Christi, blendet Nebenfiguren weitgehend aus, objektiviert den Bericht der Geschehnisse durch Wechsel der Erzähler-Stimmlagen, drängt den Rezipienten mittels der eingeflochtenen Augustinus-Passagen zu einer anders gearteten Auseinandersetzung mit der Passion als die barocken Arientexte. Sein "Golgotha" ist damit gleichzeitig Ergänzung und auch völlig eigenständiges Gegenüber der Bach'schen Passionen – ein Abenteuer für den, der sich darauf einlässt.

Michael Wersin, 15.05.2010


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