Music & Arts/Note 1 MACD1227
(2 u. 3/1953) 9 CDs
Was liegt näher als mit einem Schweizer das Bruckner'sche Hochgebirge zu besteigen!? Man braucht in diesem Gelände bekanntlich erfahrene Führer, die die gefährlichen Routen quasi blindlings kennen, die gigantischen Sinfoniesätze mit ihren abrupten Abbrüchen, schattigen Almwiesen und steilen Gipfelaufschwüngen überblicken, die Ausdauer besitzen und ihre "Mitgänger", sprich Orchester, gehörig antreiben und ihnen letzte Kräfte entlocken. Volkmar Andreae besaß alle diese Fähigkeiten. Der 1879 in Bern Geborene, 1962 Verstorbene war ein eidgenössisches Urgewächs "von echtem Schrot und Korn", wie sein Biograph Gerold Fierz meinte. 43 Jahre lang Chef des Tonhalle-Orchesters, Leiter des Zürcher Konservatoriums, Organisator und Komponist: Andreae war so etwas wie der Schweizer Obergeneralmusikdirektor. Sein Ruf als Bruckner-Kenner aber führte ihn weit über die eidgenössischen Grenzen hinaus. Die Aufnahmen aller Sinfonien samt Te Deum, die er 1953 beim Wiener Rundfunk mit den dortigen Symphonikern machte und die jetzt kompakt und restauriert veröffentlicht wurden, gehören zum Erstaunlichsten und Fesselndsten, was die Bruckner-Diskografie seit langem hervorgebracht hat. Bemerkenswert zunächst die forsche Tempowahl, gekoppelt mit einer stürmischen Accelerando-Kunst und geradezu körperlich-schroffer Kontrast-Dynamik, die dem damals noch üblichen Bruckner-Bild vom mystisch versunkenen Ersatzheiland zuwiderliefen. Stattdessen hören wir bei diesem Anti-Celibidache – besonders eindrücklich in den Finalsätzen vor allem der Vierten und Achten, im Scherzo der Neunten und dem ebenso emphatisch wie apodiktisch knapp sich aufschwingenden Te Deum – einen von düsterer Unruhe getriebenen, den gleißend-hellen Höhepunkten entgegenfiebernden Vollblutsinfoniker, der jedes Bruckner-Opus als irdisches, packendes Drama von Shakespeare'schen Dimensionen inszeniert. Auch die berühmten choralartigen Adagio-Momente, insbesondere der Fünften, Siebten (mit Beckenschlag!) und der Neunten, verflüchtigen sich nie in diffusem Weihrauchnebel, sondern werden – entsprechend der Bruckner'schen General-Vorschrift "Feierlich, doch nicht schleppend" – immer von mit einem auf Entwicklung bedachten Puls angetrieben. Die spürbar unter Hochdruck agierenden Wiener Symphoniker brachte der Schweizer nicht selten an ihre Leistungsgrenzen. Dazu gehören auch manche Blechbläser-Unebenheiten. Verschmerzen muss man überdies die (zeitgebundene) Tatsache, dass Andreae viele Werkfassungen verwendete, die heute als unbrucknerisch entlarvt sind. Doch auch das wird unwichtig angesichts der Glut, die in diesem alpinen, "gestrigen" Bruckner glimmt. Und die viele orchestral-hochglanzpolierte Aufnahmen unserer Tage ziemlich alt aussehen lässt.
Christoph Braun, 30.01.2010
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