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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Paris/London – Testament

Keith Jarrett

ECM/Universal 270 9583
(164 Min., 11 u. 12/2008) 3 CDs

Wenn einem Mann die Frau wegläuft, kommt er ins Grübeln. Keith Jarrett hat so verzweifelt auf den Verlust reagiert, dass er sich in zwei Solokonzerten abreagieren musste: zunächst am 26. November 2008 in Paris und am 1. Dezember 2008 in London. Die Verzweiflungstaten sind gut für Voyeure, denen er nicht nur im Booklet sein Herz öffnet, sondern vor allem in den Konzerten, die er – wie stets – frei improvisierte. In Paris ließ er zunächst die Finger wie suchend über die Tasten laufen, zerbröselte und verdichtete deren Gang, bis er bei dichten Geflechten aus sich überkreuzenden Bewegungen landete: Das Thema war ausgereizt und deshalb machte er auch damit – anders als noch vor zehn Jahren – nach 13 Minuten damit Schluss. Sieben weitere Improvisationen folgten, jede einen Gedanken umkreisend, aufbauend und abbrechend. Gemeinsam ist ihnen, dass er singbare Melodien und einfache Formen nur im dritten, fünften und siebten Stück über längere Zeit aufklingen lässt und in den übrigen Abschnitten eher in impulsiven Reihen und dichten, von harten Rhythmen geprägten Tontrauben mit dem Instrument kommuniziert. Ganz anders war ihm in London zumute. Hier begann er in dem 93-minütigen Auftritt nach melancholischen, zerrissenen Anfängen so magisch wie selten zuvor zu schwelgen – diese Stimmung kippte schon im ersten, elfminütigen Titel ins Versöhnliche. Danach hatte er seinen Spaß an dem Kontrast zwischen einer tiefen, fast rockigen Bassfigur und knappen, hellen Klangspritzern oder einem beseelten, an die Atmosphäre der Spirituals erinnernden Song. Wenn er sich später in abstraktere Gefilde begibt, bleibt eine heitere Grundstimmung erhalten – gerade so, als beginne er, über die eigenen Einfälle zu witzeln. Je länger das Konzert geht, desto mehr beginnt er, im Moment zu schwelgen: ein großartiger Triumph von Melodie, Harmonie und Geborgenheit. Dass er seine Solokonzerte in klar abgetrennte Abschnitte unterteilt, verdankt er übrigens der Einsicht, die ihm während der Rekonvaleszenz nach einem Jahr im Erschöpfungszustand des "Fatigue-Syndroms" aufging: Die aufs Wesentlichste reduzierte Interpretation von Standards auf "The Melody at Night, with You", ursprünglich ein privates Geschenk an seine Frau Rose Anne, war der Anfang einer neuen Schaffensperiode, in der er Pausen als Gliederungselement zuließ. Ein Testament regelt die Aufteilung des Erbes. Das Album so zu nennen, ist hoffentlich einer Laune entsprungen, denn dies würde bedeuten, dass von ihm nichts Relevantes mehr zu erwarten wäre. Gerade nach diesem Album ist man aber auf weitere ähnlich grandiose Konzerte gespannt.

Werner Stiefele, 24.10.2009


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