RCA/BMG 09026-63844-2
(113 Min., 12/1960) 2 CDs
Es mag schöneres Klavierspiel geben. Aber Live-Aufnahmen von fanatischerer Konzentriertheit als jene von Swjatoslaw Richters USA-Debut 1960 dürften kaum zu finden sein. Über Richter zu schreiben ist schwierig. Proteushaft entzieht er sich allen Wahrheiten und Erwartungen. Wer aber deshalb glaubt, Richter habe, gleichsam ungreifbar, eine Maske hinter der Maske getragen, wäre fast beschämt angesichts der Aura von Richtigkeit, die Richters Interpretationen umgibt.
Das gilt auch für das letzte seiner sieben Carnegie-Hall-Konzerte vom 26. Dezember 1960, das hier erstmals vollständig auf CD erscheint. Der Kopfsatz der späten Haydn-Sonate in C-Dur bezeugt einen Bewegungsüberdruck, dem er einen großen Teil dieses Programms unterwirft. Doch gerade dort, wo Rasanz zum Selbstzweck, zur Kür verkommen könnte, bremst sich Richter: diskreter sind die Effekte verirrter Modulationen im Haydn-Finale kaum vorzutragen.
Vielleicht gerät Chopins Scherzo E-Dur zur glühendsten und auch exzentrischsten Station dieses Programms. Viele Interpreten neigen dazu, in der leuchtenden, statischen Klangwelt der Komposition auszuruhen und das Scherzohafte in einer gewissen dünnblütigen Spätwerk-Spiritualität aufzulösen. Richter setzt dem schönen Stillstand forcierte Ausbrüche des Motorischen entgegen und zeichnet eine bedrohlich gezackte E-Dur-Fieberkurve.
In Ravels "Jeux d'eau" spinnt Richter sein Thema "Bewegung" fort. Ging es im Scherzo um wilde Umschwünge, so sind diese Wasserspiele einem einzigen Bewegungszug unterworfene, farblose Kaskaden, die fast bis zum Ende kein Kräuseln, kein Becken bremst. Bloß zu Tal. Es ist geradezu ungeheuerlich, wie Richter die unruhevolle Anspannung dieser Stunde Klavierspiels im „Vallée des cloches“, dem letzten von Ravels „Miroirs“, völlig auffangen und beruhigen kann. Nicht das Kultivieren farbigen Klanges – war es je Richters größte Stärke? –, sondern die absolute Beruhigtheit, in der Richter die dynamischen Schichten präzise übereinanderlegt, ist atemberaubend.
Als sei er nun gelöster, spielt Richter Prokofjews sechste Sonate klassischer, maßvoller, erlaubt sich keine Ausbrüche aus dem interpretatorischen Bezirk mehr, den er in seiner früheren Studioaufnahme abgesteckt hatte. In diesen Konzerten, in denen der sechsundvierzigjährige Richter unter furchtbarem Erwartungsdruck stand, erinnert er mich an einen Prediger, der die Masse hypnotisiert mit einer reinen Vision. Diese CDs dokumentieren ein Ringen um Wahrheit.
Matthias Kornemann, 22.11.2001
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