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N° 1354
20. - 28.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Ludwig van Beethoven

Die neun Sinfonien

Orchestre Révolutionnaire et Romantique u.a., John Eliot Gardiner

Archiv Produktion 439 900-2
(1991 - 1994) 5 CDs, aufgenommen in London, Snape, Barcelona

Es ist eine immer wieder gerne zitierte Schulweisheit, dass Beethoven praktisch in allem, was er schuf, aber ganz besonders in seinen Sinfonien, Klaviersonaten und Streichquartetten, einer der größten revolutionären Neuerer und unerbittlichsten Moralisten der Musikgeschichte war. Den klingenden Beweis dieser Erkenntnis sind uns bei seinen allgegenwärtigen Sinfonien die Dirigenten in den letzten Jahrzehnten - spätestens seit Einführung der alles beschönigenden Stereophonie - aber weitgehend schuldig geblieben.
Wer von meiner High-Fidelity-verwöhnten Nachkriegsgeneration sich noch einen Eindruck verschaffen wollte, was Beethovens Zeitgenossen und jene Armeen von literarischen Deutern seither gemeint haben mochten, wenn sie von der bedrohlichen Größe seiner Kunst, dem revolutionären Pathos und dem stets "geladenen" Ton in seinen Sinfonien schwärmten, der musste sich an die akustisch und teilweise auch spieltechnisch veralteten Mono-Aufnahmen des greisen Toscanini halten - nur da blieb die Rebellion des Geistes Wesensbestandteil der Klanggestalt, während sie später, unter Karajan, zur Attitüde verkam und in einer derart exhibitionistischen Weise Allgemeingut wurde, dass bald der letzte Rest von innerem Widerstand aus diesen sinfonischen Kolossen getilgt schien. Beethoven war mutiert zum Schöpfer gewaltigen Wohllauts, zum dreidimensionalen Klangsymboliker eines weltumschlingenden Ta-ta-ta-taah!
Und in einer solchen Situation, da das Schicksal dieser Musik längst besiegelt schien - nämlich zur Repräsentation hohler Staatsmacht -, trat dieser blässlich wirkende Engländer mit seinem "der Revolution und der Romantik" verpflichteten Frauenorchester vor das abgestumpfte Konzertpublikum und riskierte und schaffte das Unmögliche: Nach einem Abnützungsgrad von fast zweihundert Jahren und dem Handicap von vierzig Parallelaufnahmen diesen neun Sinfonien ihre ursprüngliche Intention von etwas Unerhörtem, Bedrohlich-Großartigem, Unerbittlich-Martialischem und Revolutionärem zurückzugeben und diesen aggressiven Gestus aus den abgespielten Partituren förmlich herauszuschälen, das wuchernde Gestrüpp der spätromantischen Rezeption, die bis zuletzt Gültigkeit besaß, zu entfernen und diese Schöpfungen eines unbezwingbaren Genies in ihrer ganzen jungfräulichen Kraft, Rigorosität und Hitzigkeit wieder erstrahlen zu lassen, als hörten wir sie zum erstenmal.
So bekommt man auch einen Eindruck davon, wie schockierend modern, abweisend-schroff und grenzensprengend diese sinfonischen Schlachten auf Beethovens Zeitgenossen und alle nachfolgenden Komponisten-Generationen gewirkt haben müssen und warum eine Instanz wie Brahms so viele Jahre lang zögerte, bevor er seine erste Sinfonie zu beenden wagte. Natürlich konnte sich Gardiner auf den neuesten Stand der Quellen-Forschung stützen, und ebenso hielt er sich an die rasend schnellen Tempi der nachträglich von Beethoven vorgenommenen Metronomisierungen, was selbst die ausgefuchsten Originalklang-Cracks seines Orchesters mehr als einmal an ihre spieltechnischen Grenzen trieb.
Aber weder die pulsierenden Tempi noch die wunderbare, spröde Farbigkeit des alten Instrumentariums sind die entscheidenden Faktoren für diese höchst eindrucksvolle Wiederbelebung des längst verschüttet geglaubten "Geistes" des größten Musikers der bürgerlichen Revolution; es ist primär der hervorragend trainierte und hochgebildete musikalische "Instinkt" des Dirigenten Gardiner für den ursprünglichen Gestus dieser Musik, den er auf dem spieltechnischen Niveau und mit dem Präzisions-Anspruch des ausgehenden 20. Jahrhunderts realisiert, ganz auf der Höhe seiner Zeit. Hinweggefegt ist lediglich der beschönigende, alle Widerstände beseitigende, reaktionäre Positivismus einer langen Rezeptionsgeschichte, an den wir uns alle schon zu sehr gewöhnt hatten.
In diesem Sinne hat Gardiner hier nicht nur eine sehr eigenwillige und neuartige Deutung des vielgeschundenen klassischen Neungestirns vorgelegt, sondern mit einem mutigen Streich alle lähmenden, berauschenden und verniedlichenden bösen Geister der Vergangenheit entlarvt und verscheucht. Und Beethoven, von allem Unrat gereinigt, strahlt mächtiger, leidenschaftlicher und grimmiger als je zuvor.
Dass ausgerechnet das historische Label eines Plattenkonzerns, der noch vor wenigen Jahren Karajans Beethoven-Bild weltweit kultivierte, dabei zum diskografischen Vollstrecker einer geradezu entgegengesetzten Beethoven-Ästhetik geriet, mag eine delikate Nebensächlichkeit sein, aber es zeigt, dass die Macht und der Ruhm der alten Götter sich noch schneller verzehren, als selbst ihre Kritiker zu hoffen wagten.

Attila Csampai, 01.09.2007


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