Als Schumann ehrfürchtig begann, mit Beethovens Sonatenformen zu hantieren, waren sie längst morsch wie altes Gewebe, und so zerfielen sie ihm unter den Händen. Nirgends aber zerfielen sie derart fantastisch und disparat wie in der Sonate Nr. 3 f-moll op. 14, dem unbeliebtesten aller großen Klavierwerke Schumanns. Von den großen Alten spielte allein Horowitz das Stück, und auch ihm zerbrach es wahrlich fantastisch. Welche pianistischen Schönheiten freilich entlockte er diesen erregenden Fetzen.
Bernd Glemsers Aufnahme aber hat einen geradezu unwiderstehlichen Zug zur Verdichtung. All die ineinander geschlungenen Motivverwandlungen, die Schumann aus fünf fallenden Tönen gewinnt, sie sind nicht bloß gestochen scharf exponiert, nein, wichtiger noch, die so oft episodisch aneinander gehefteten Formteile wachsen in gespannten, zart ausgekosteten Übergangspassagen ganz organisch zusammen. Meint man darum, vielleicht zum ersten Mal, endlich etwas zu fassen vom Wesen dieser schwierigen Musik?
Sekundenkurze Überleitungswunder scheinen überall im Kopfsatz auf, noch berückender vielleicht jene zum Mittelteil des Scherzos. Glemser entdeckt die Poesie jener Bruchstellen und Nähte, an denen das scheinbar Unpassende zusammenstößt. Das gilt auch für die "horizontalen" Verwerfungen. Das sich in den Ecksätzen kontrapunktisch mehr und mehr verzahnende Material wird nicht jenen gefährlichen Reibungen ausgesetzt, die die Entwicklungsbögen ganz zerreißen würden, notorisches Rumoren der Synkopen ist gemildert zum zarten Einwand.
Horowitz mag unheimlichere Bilder beschwören, aber Glemser gelingt es, vermittelnd, behutsam glättend manchmal, gedanklich-formalen Zerfall für die Länge einer Sonate, die keine sein kann und will, aufzuhalten und ihre Geschichte zu Ende zu erzählen. Alles fließt. Im irrwitzigsten aller Schlusssätze Schumanns bremsen Glemser weder das entsetzlich schwere Häkelwerk der 16tel-Triolen noch die geradezu verschroben komplizierten Phrasierungsideen.
Eingewoben in diesen glasklaren Toccatenstrom (den leider mir völlig unerklärliche Störgeräusche verunklaren, die sich auch an anderen Stellen der CD bemerkbar machen) sind ein raffiniertes Oszillieren der Klangfarben, plötzliche pp-Verschattungen, dynamische Umschwünge, denen unser Ohr kaum folgen kann. Ich fürchte fast, es klingt wieder einmal so mühelos, dass allenfalls Pianisten die ganze Dimension dieser Kunst fassen können, Kollegen, die Glemser auch um das geradezu diabolische Kabinettstückchen des ersten Triosatzes im Scherzo der Sonate Nr. 1 fis Moll ein wenig beneiden werden, so elegant repetieren die Terzen, so locker hüpft der Bass.
Kollegen, die dann auch beruhigt sein werden, dass selbst Glemser mit dem Riesenfinale der fis-Moll-Sonate seine Probleme hat. Es wäre allzu unheimlich, hätte er auch noch diese schwierigste Schumann-Aufgabe gelöst, an der schon Gieseking, Arrau und viele andere nobel gescheitert sind. In deren Rang als Schumann-Interpret wächst Glemser immer weiter hinein.
Matthias Kornemann, 01.04.2002
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