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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Frédéric Chopin, Franz Schubert, Franz Liszt, Sergei Prokofjew, Johann Sebastian Bach

Werke für Klavier

Nikolai Tokarev

Sony Classical/Sony BMG CD 86970 75832
(77 Min., 2/2007) 1 CD

(Es folgen zwei Rezensionen der RONDO-Autoren Tom Persich und Helmut Mauró, die zu einer jeweils ganz anderen Einschätzung dieser Aufnahme gelangen.)
Und wieder hat der liebe Gott Manna ausgestreut unter die Irdischen. Hat ihnen, was er gern tut, einen (russischen) Pianisten geschenkt, ein schlaksiges, hochgewachsenes und etwas unrasiertes, in Ansätzen genialisches Wesen, geboren 1989, und natürlich, der Betrieb verlangt nach Emblemen, rasch, nach den ersten Auftritten, als Wunderkind tituliert, bevor es, dieses wundersam begabte Kind, selbst darüber sinnieren konnte, was denn dies wohl bedeuten mag. Um es konzis zu sagen: Es bedeutet, das jedenfalls muss man nach mehrmaligem, gleichermaßen aufmerksamem wie geneigtem Hören dieser Aufnahme betrüblicherweise annehmen, vor allem eines: Ballast. Es bedeutet die Gefahr, sich zu verirren, die Gefahr des Irrtums und Irrwegs. Und diese Gefahr will sich vom ersten bis zum letzten Ton nicht verscheuchen, nicht bannen lassen.
Dass Nikolai Tokarev fantastisch Klavier spielen kann, dass er über eine technische Leichtigkeit gebietet, die Staunen macht, das sei unbestritten. Aber das können viele junge (russische) Pianisten. Das Besondere jedoch stellt sich auf andere Art und Weise ein. Es muss nur mit dem vorliegenden Text etwas zu tun haben. Was Tokarev mit dem zentralen Werk der silbernen, runden Scheibe macht, mit der b-Moll-Sonate Chopins, das folgt zwar dem Notentext in weiten Teilen, aber es verdreht den Sinn dieser tiefgründig-melancholischen Sonate. Es gibt einen feinen Unterschied zwischen Sentiment und Sentimentalität, zwischen Klangsinn und Klangkitsch. Tokarev liegt, und das leider sehr deutlich, hier auf der falschen Seite. Er spült, mit reichlich häufigem Gebrauch des linken Pedals und mit einem Anschlag, der so butterweich ist, dass man dahinfließen möchte, das Tiefgründige weg, als habe er Angst davor; schon der spannungslose Beginn verweist darauf. Alles wirkt auch in der Folge beinahe beliebig, so, als wolle Tokarev den stürmischen Habit der Sonate glattbügeln oder gar dementieren. Das lyrische Seitenthema hat hier, als eigentlich notwendiger Gegenentwurf, überhaupt keine Kraft mehr, keine Magie, gleiches gilt für den "Marche funèbre". Und so geht es weiter und weiter, durch Schuberts Moments musicaux und Liszts "Campanella" hindurch und so fort. Alles sehr klangschön, sehr kultiviert. Der Hörer wohnt hinter der Milchglasscheibe. Und wartet ...

Tom Persich, 2.6.2007


Auffällig an den Kritikern des großartigen Pianisten Nikolai Tokarev ist eine Form der Häme, die schon ein bisschen das eigene Scheitern einkalkuliert, die Aussichtslosigkeit und Haltlosigkeit der Beurteilung und somit absurderweise prophylaktisch eine Opferrolle des Kritikers stützen soll. Wenn dieser Pianist wider unsere Fachmeinung Erfolg haben sollte, so die konnotative Aussage, dann aufgrund von Qualitäten, die mit Musik nichts zu tun haben. Auffällig an den Kritikern des begnadeten Pianisten Nikolai Tokarev ist auch das Beharren auf einen Grad an Uninformiertheit, ohne den einige Facetten der Urteile von vornherein in sich zusammenfallen würden. Nikolai Tokarev ist keine neuere Entdeckung, er spielt seit zehn Jahren auf Tourneen in Japan und ist seit vier Jahren in Europa unterwegs, in Großbritannien, Italien, den Niederlanden, der Schweiz und in Deutschland, wo er in München debütierte, später in Ludwigsburg, Bad Kissingen, Dortmund, Berlin, Essen und weiteren Orten präsent war. Nikolai Tokarev ist auch kein "schlaksiges Kerlchen", wie man nun schon mehrfach lesen konnte, sondern ein extrem durchtrainierter Athlet mit einem ziemlich breiten Kreuz und kräftigen Holzfällerhänden. Nikolai Tokarev ist auch nicht einer von Hunderten russischen Technikgenies, die dort in Fabriken hergestellt würden, sondern auch in Russland eine Ausnahme, wie Kissin und noch ein paar wenige andere es waren, die freilich schon im Vorschulalter eine professionelle Ausbildung erhielten. Deshalb ist für diese Pianisten vieles selbstverständlich, was unsere schlecht ausgebildeten Pianisten erstaunen lässt und die Kritiker reflexartig dazu bringt, neben der raumfüllenden und gehirnumnebelnden Virtuosität einfach nichts mehr zu vermuten. Aber selbst wenn das so ist, so muss man doch wenigstens feststellen, dass derzeit niemand über diese extreme Bandbreite an Anschlagsdynamik und Phrasierung verfügt wie Nikolai Tokarev, dass sich nur sehr wenige auf einem solchen technischen Niveau bewegen, von dem aus tiefergehende Musik erst möglich wird. Die deutsche Unsitte, schlechte Technik mit tiefschürfendem Gedankentum zu entschuldigen, wird allmählich peinlich. Seit den Anfängen von Pollini und Kissin hat es keinen Pianisten gegeben, der ein Publikum allein durch die musikalische Spannung und Konzentration so fesseln konnte wie Nikolai Tokarev. Allein mit guter Technik geht das nicht. Dazu braucht es einen Sinn für Dramaturgie, für musikalische Inhalte und für die Ebene der emotionalen Semantik. Natürlich ist es schwierig, einen Musiker allein von Aufnahmen her einzuschätzen. Aber selbst wenn man nur die vorliegenden Einspielungen von Chopins b-Moll-Sonate, der Silotibearbeitung von Bachs h-Moll-Präludium, von Schuberts f-Moll-Moment-Musicaux und Mussorgskys Klavierversion von "Eine Nacht auf dem kahlen Berge" vorliegen hätte, müsste man doch zugeben können, dass hier eine außergewöhnliche Begabung zu Werke ist, ein genialer Geist, der über unfassbare technische Möglichkeiten verfügt. Wann etwa wurden zuletzt Liszts Don-Giovanni-Variationen gespielt? Und wer zauberte – außer vielleicht an einem guten Abend Grigorij Sokolov – eine Miniatur von Rameau so stilsicher und gleichermaßen unprätentiös und spannungsgeladen wie Nikolai Tokarev? Aber warum sollte es diesem von Seiten der Fachkritik besser ergehen als dem jungen Pollini?

Helmut Mauró, 2.6.2007

Helmut Mauró, 01.09.2007


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Kommentare

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Ich muss Helmut Mauró widersprechen. Ich habe Tokarew zweimal live gehört und halte ihn für technisch allenfalls solide und musikalisch völlig unbedeutend. Sein musikalisches Ausdrucksspektrum umfasst nur wenige Kategorien wie \"expressiv-elegisch\" oder \"auftrumpfend-virtuos\", die er wie Register zieht. Was über diese Klischees hinausgeht, fällt bei seinem Spiel weitgehend unter den Tisch, aber für das Gros des Publikums genügt das offenbar. Auch seine gerühmte Technik kommt dann schnell an ihre Grenzen, wenn es um Klangfarben oder Stimmtrennung geht. Schnelle Finger hat er, aber das haben viele...


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