Ich höre diese CD, während ich gerade geschmacksneutrale (genmanipulierte?) Früchte esse (sind es Aprikosen, Pfirsiche, Nektarinen?). Ich tunke sie in Chianti, damit sie wenigstens nach etwas schmecken. Nur dieses Album hält mich davon ab, allen modernen Tüfteltechnikern das Fegefeuer oder ein vierundzwanzigstündiges Gespräch mit einem Versicherungsvertreter an den Hals zu wünschen. Warum?
Ich besitze Jelly Roll Mortons Pianorollen auf einer alten LP-Überspielung (sie klimpert mechanisch seelenlos ohne dynamische Schattierungen auf einem mäßigen Klavier dahin) und seine Schellacksolos (es kratzt, knistert, rauscht). Nun hat Artis Wodehouse per Mausklick die Piano-Roll-Informationen mit den Informationen aus den Platteneinspielungen ergänzt. Das digitale Ergebnis steckt in einer Diskette, die ein Yamaha Disklavier antreibt. Plötzlich stimmt das Tempo und der Anschlag, stimmt die Agogik und (fast) die Dynamik (sie könnte kontrastreicher sein.)
Ars gratia Artis Wodehouse. Das Resultat ist beachtlich, aber die Frage, ob wir nun dem Spiel eines Menschen oder einer Maschine lauschen und ob man letzteres überhaupt kritisch würdigen kann, ist schwer entscheidbar. Das Leben hat jedenfalls Nebengeräusche. Die akustische “London-Blues”-Aufnahme vom Juni 1923 etwa wirkt um einiges dringlicher und dramatischer, als es die Wodehouse-Version erahnen lässt; diese wiederum ist eleganter und geschliffener als die früheren Überspielungen.
Unzweifelhaft aber ist die historische Bedeutung der Rollschen Rollen: Sie sind der Rolls Royce unter den Jazz-Pianorollen. Jelly Roll Morton erfand den Jazz an einem Sonntagnachmittag des Jahres 1902 - das behauptete er jedenfalls selbst. Wenn man den Kreolen mit den diamantbesetzten Zähnen reden hörte, der noch um die Jahrhundertwende als Jüngling mit verbundenen Augen in den Luxusbordells von New Orleans gespielt hatte, mochte man ihn für einen Aufschneider halten. Tatsächlich war jenes Genie, das Ragtime und Blues verband und mit hier versammelten Kompositionen wie “King Porter Stomp” Grundpfeiler des traditionellen Repertoires schuf, der erste bedeutende Jazzpianist. Nie war er besser zu hören als heute.
Marcus A. Woelfle, 31.03.1997
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