Wenn von den Über-Virtuosen des solistischen Jazz-Pianos die Rede ist, von überragenden Technikern, denen kein Tempo zu schnell, kein Lauf zu schwierig ist, und die jeden noch so komplizierten Einfall mit einer brillanten Anschlagskultur bewältigen und mit einer Mühelosigkeit präsentieren, die alles wie ein Kinderspiel erscheinen lässt, dann sollten nicht nur amerikanische Namen wie Art Tatum und Oscar Peterson fallen. Auch Europa - das sollte eigentlich ein Gemeinplatz sein - hat solche Tastenperfektionisten hervorgebracht wie den algerischen Franzosen Martial Solal oder den Polen Adam Makowicz. Auch der 1997 verstorbene Tete Montoliu aus Barcelona, der heuer seinen 70. Geburtstag hätte feiern können, gehört - das beweist dieses Album einmal mehr - in diese illustre Runde. Es ist fast tragisch: Jahrzehntelang war der von Geburt an blinde Klaviermagier so unbekannt wie jeder Jazzmusiker aus Spanien. Erst in Ländern wie Deutschland und Dänemark erntete er seine Lorbeeren, um schließlich, endlich bekannt, krankheitsbedingt kürzer treten zu müssen. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass der europäische Jazz-Freund erst einmal auf Lob aus den Staaten wartet, bevor er die Giganten seines Erdteils als solche erkennt. Montoliu wurde solche Anerkennung entgegengebracht: von hier arbeitenden amerikanischen Musikern wie Dexter Gordon und Ben Webster, die sich bevorzugt von ihm begleiten ließen, nicht aber - und darauf kommt es leider auch hier an - von der alles dominierenden amerikanischen Plattenindustrie.
“Lunch In L.A.” ist Montolius einziges Album für ein amerikanisches Label, und es spricht Bände, dass dieses Juwel heute nur in der “Limited Edition Series” der vorbildlichen Reihe Original Jazz Classics erscheint. Sogar das denkwürdige Aufnahmedatum - es war der 2. Oktober 1979 - wird falsch angegeben. Man erwartet gerade mal ein paar hundert Käufer und macht sich für so Wenige auch nicht die Mühe, so etwas zu recherchieren.
Der ausgezeichneten Musik nimmt dies freilich kein Jota: Vom eröffnenden “Airegin” bis zum abschließenden “Margareta”, das sich übrigens nur auf dieser CD-Reissue findet, improvisiert Montoliu nicht nur makellos und einfallsreich, sondern mit Leidenschaft, Beseeltheit und Innbrunst - Eigenschaften, die so manchem großen Techniker leider oft fehlen. Er tut dies in einer stilistischen Mittellage zwischen dem expressiv gemeißelten Bebop à la Bud Powell und der lyrischeren, moderneren Haltung à la Bill Evans, die gerade damals (und zum Teil noch heute) für die meisten Pianisten vorbildich war. Die katalanischen Elemente, die seiner Musik sonst noch besondere Originalität verliehen, treten hier (wohl wegen des amerikanischen Marktes) etwas zurück. Eines der Stücke ist ein vor Witz überschäumendes Duo mit seinem Bewunderer Chick Corea: “Put your Little Foot Right Out”. Die Ballade “I Want To Talk About You” weist jene himmlischen Längen auf, die es - trotz anderer Auffassung und Musizierart - als Tribut für John Coltrane ausweisen. Für solche Klavier-Improvisationen, bei denen sich jede Note ebenso swingend wie zwingend aus der vorherigen ergibt, kann es nur eine Bezeichnung geben: Vollendet.
Marcus A. Woelfle, 21.06.2003
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