Es war vor einigen Jahren, als ich Igor Schukow einmal live in Münster erlebt habe. Ein recht kleiner, zerbrechlicher Mann in den Sechzigern, der leicht gebückt zum Flügel schreitet, nicht ohne sich zuvor noch einmal vergewissert zu haben, ob sein DAT-Recorder den Auftritt auch wirklich konservieren wird. Vor allem im Gedächtnis geblieben ist mir an diesem Abend Alexander Skrjabins vierte Klaviersonate. Der hier auskomponierte Weg in die Ekstase war für mich in Schukows Darstellung ein Erlebnis von urtümlicher Wucht und zugleich äußerster klanglicher Rafinesse. Hätte ich Skrjabin nicht schon längst verehrt, an diesem Abend wäre ich auf jeden Fall bekehrt worden.
Nun ist Schukow ins Studio gegangen, und ich bekenne: Fast haben mir beim Auspacken seiner Gesamteinspielung aller zehn Klaviersonaten ein wenig die Hände gezittert. Ich war gespannt … Und dann ein wenig perplex. Die erste Sonate (so ein Unternehmen beginnt man am besten ganz vorne) erklang viel, viel langsamer als gewohnt. Skrjabin schreibt im ersten Satz ein "Allegro con fuoco" vor. Doch Schukows Feuer entsteht nicht aus dem Tempo, mit dem er die enormen Akkordmassen des Satzes aufeinandertürmt, es brennt förmlich aus dem Inneren des Klangs heraus und das gelingt nur, wenn man dem Klang auch genug Zeit gibt zu entstehen. Diese Sonate beschließt ein Trauermarsch und das hört man bei Schukow schon im ersten Satz.
Was hat dieser außergewöhnliche Musiker noch zu bieten? Da ist diese typisch russische, glockenhaft voll klingende Mittellage, die dennoch in jedem Detail zugänglich bleibt, aber den Figurationen, mit denen Skrjabin seine Themen häufig lisztartig umspielt, geheimnisvollen Zauber leiht. Da ist jener sternenhaft funkelnde Diskant, der einen zum Träumen bringt. Und jene gnadenlose Attacke, mit der uns Komponist und Interpret immer wieder aufschrecken, kurz, alle pianistischen Mittel, um Skrjabins Kosmos bis hinein in die kryptisch raunenden späten Sonaten tönen zu lassen, schließlich eine jahrzehntelange Verflochtenheit mit jener Tradition, die diese Musik überhaupt entstehen ließ. Horowitz hat uns keine Gesamteinspielung aller zehn Sonaten hinterlassen; sie wäre die einzige ernsthafte Konkurrenz dieser titanischen Leistung. Marc-André Hamelins Gesamtaufnahme hat hier auf jeden Fall ihren Meister gefunden.
Stefan Heßbrüggen, 11.01.2001
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