1960, im dritten Satz der "Freedom Now Suite" ihres späteren Ehemannes Max Roach, brüllte sich Abbey Lincoln wahrhaftig die Seele aus dem Leib. Diese überwältigende Anklage gegen die Vergewaltigung, Ausbeutung und Erniedrigung der ehemaligen Sklaven sollte der Sängerin nicht viel Gutes bescheren. Man habe sie nach diesen Schreien in Amerika nicht mehr gemocht, ist Lincoln überzeugt. Und in der Tat dauerte es geschlagene 30 Jahre, bis die Karriere der Vokalistin wieder Fahrt aufnahm. Mit Ausnahme des Auftakts "Blue Monk" befinden sich auf "Abbey Sings Abbey“ nun ausschließlich Stücke, die Lincoln in der Zeit nach 1990 komponiert und aufgenommen hat. Die inzwischen 77-Jährige hat ihren Songs dabei eine Radikalkur verpasst. Gemeinsam mit dem Dylangitarristen Larry Campbell, dem Akkordeonisten Gil Goldstein, dem Cellisten Dave Eggar und einer Rhythmusgruppe flirtet sie heftig mit Country, Deltablues und Cajun. Das klingt einerseits überraschend, wenn man sich die starke schwarze Stimme hinter der "Freedom Now Suite" dazu vorstellt. Andererseits lässt sich dieser gewagte stilistische Wechsel aber auch als Reaktion auf Cassandra Wilson und Norah Jones verstehen. Die alte Dame bewegt sich jetzt eben auch einmal in dem musikalischen Umfeld der erfolgreichen jüngeren Sängerinnen, die sie mittel- oder unmittelbar beeinflusst hat. Und macht dabei eine würdevolle Figur. Da kann die instrumentale Begleitung stellenweise noch so bewegt und frohgemut sein – Lincolns brüchiges Organ verwandelt jedes Lied in eine Erzählung voller Weisheit, mit all den Verletzungen, Stichen und Enttäuschungen, die so ein Leben bergen mag. Das Abschlussstück "Being Me" hört sich dann auch glatt wie Abbey Lincolns ganz persönliches "My Way" an. Recht so, die Frau geht ihren Weg.
Josef Engels, 05.08.2007
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