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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Sergei Rachmaninow

Préludes opp. 23, 32, Études-tableaux opp. 33, 39, Klaviersonaten opp. 28, 36 u.a.

John Ogdon

EMI 5 67938 2
(7/1988 - 10/1988) 3 CDs

Es war einmal ein pummeliger, kauzig aussehender Brite, dem es 1962 gelang, das halbe Moskauer Konservatorium niederzudonnern und den Tschaikowsky-Wettbewerb zu gewinnen. John Ogdon. Partituren schlang er mit gargantuesker Gier in sich hinein, dieser Gottvater aller Notenfresser von Ponti bis Hamelin. Je schwerer, desto besser. Unter dieser Devise waren ihm etwas mehr als zehn aufregende Jahre auf wilden Repertoire-Streifzügen zum Unspielbaren, Bombastischen und Abseitigen vergönnt.
Dann holte das Schicksal den Mann mit der Hornbrille und dem Knebelbart ein. Ererbte Schizophrenie. Der Rest ist eine Leidensgeschichte aus stationären Aufenthalten, Comebackversuchen, ein paar Konzert-Lichtblicken und dem Verdämmern einer Kunst. Wir können hörend diese tragische Abwärtsspirale verfolgen, tragisch im Gegensatz zum bloß skurril-interessanten Fall eines David Helfgott, weil wir die Höhe besuchen können, aus der Ogdon dem Abgrund dieser Aufnahme entgegenfällt, tragisch, weil wir ahnen, was zerstört wurde.
1962 spielte er ein paar der Préludes von Rachmaninow ein, das berühmte "Alla marcia" und jenen frostigen Traum in gis-Moll (op.32/12). Dies ist ein Rachmaninow, der sich von jenem der Russen abhebt. Ein Rest von Nüchternheit durchdringt das wilde Stampfen und das elegische Rieseln, ein Unterton britischen Unwillens, sich in mystischem Bombast zu verlieren. Ahnte Ogdon, das sich Ungesundes darin verbarg?
Als er sich wieder Rachmaninow widmete, lag der erste Schub der Krankheit schon hinter ihm. Sein Spiel war gröber geworden. Die "Études-tableaux" von 1974 klingen manchmal so aufgedonnert und grobkörnig, wie Rachmaninow nach landläufiger Meinung nicht klingen sollte und wie wir ihn uns - uneingestanden - doch manchmal wünschen. Ich stelle mir den unsportlichen Pubertierenden vor, der nur sein Klavier hat, um die Mädchen zu beeindrucken. Und dann ist der Musikraum ausnahmsweise nicht verschlossen, und er legt los mit einer Etüde. Sein Traum wäre es vermutlich, so zu spielen wie Ogdon. Solche Akkordstürme zu entfesseln in der es-Moll-Etüde (39/5), mitreißend und liebenswert in dieser kindlichen Freude, es zügellos krachen zu lassen.
Es gibt subtilere Fassungen als diese 1974-Études, und doch konnte uns Ogdon eine Fassette Rachmaninowscher Musik zeigen: Die Maßlosigkeit, mit der der visionäre Komponist im dicken Klaviersatz wühlte und ihn irgendwann tatsächlich zu zäher Lava verwandelte. Freilich fielen Ogdon dabei die ersten Töne unter den Flügel, was bei Rachmaninow allerdings nicht ganz so schlimm ist wie bei Bach.
1988 finden wir einen früh Gealterten, ja Verwüsteten wieder im Studio. Eine Aufnahme der großen Zyklen, der 24 Préludes, der Études, Sonaten und Corelli-Variationen sollte sein Vermächtnis werden. Man hat damals darauf verzichtet, das Ergebnis zu veröffentlichen. In diese Epoche ragten offenbar noch Leute mit Pietät hinein. Diese Aufnahmen anzuhören ist eine Qual.
Ogdon wirkt keineswegs sediert. Im Gegenteil, voller Furor wirft er sich auf die Notenpacken, zornig erregt vielleicht, weil sich ihm selbst Mittelschweres widersetzt. Ogdon sind schlichtweg die elementaren Mittel des Virtuosen abhandengekommen. Nun brauchte man eine Schaufel, um die Töne wegzuschaffen, die ihm unter den Flügel fallen. Nicht einmal Umrisse der "Études-tableaux" arbeitet er heraus, manche, wie jene in es-Moll aus dem ersten oder a-Moll aus dem zweiten Band sind nicht mehr zu erkennen, sind zu ruinös, um im Geiste des Hörers auch nur rekonstruiert werden zu können.
Hören wir die finster-großartige Etüde in cis-Moll (33/9), müssten wir fast lachen über diese Karikatur einer Dies-irae-Klaviermusik, in der sich ein apokalyptischer Spieler hilflos wühlend im Akkordbrei über den Komponisten lustig macht. Spottgeburten, über die wir dann doch nicht lachen, weil hier und da in den langsamen Präludien und Etüden eben doch noch etwas aufscheint vom spröden Zauberer Ogdon. Ganz kurz bloß, aber es ist herzzerreißend.
Wir sind am Ende des Dramas und finden den Helden zerschellt daliegen. Weniger als ein Jahr nach dieser gescheiterten Produktion starb der Pianist. Ich rate allenfalls jenen, die ein klinisches Interesse an Verfallskurven haben, sich diesem letzten Akt auszusetzen.

Matthias Kornemann, 01.09.2007


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