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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Giovanni Battista Pergolesi

Stabat Mater, Salve Regina

Dorothea Röschmann, David Daniels, Europa Galante, Fabio Biondi

Virgin/EMI 363340 2
(157 Min., 8/2005)

Ein interessanter Fall: Die zweifellos bemerkenswerte Interpretation von Pergolesis "Stabat Mater" auf dieser CD stellt im Zusammenhang mit dem Beihefttext des Musikwissenschaftlers Frédéric Delaméa die Frage der stilistischen Einordnung des Stücks aus einem unüblichen Blickwinkel: Gewöhnlich bewundert man Pergolesis "Stabat Mater" wegen seines scheinbar visionären Ausblicks auf den frühklassischen Stil: Ausdünnung des Orchestersatzes, Anzeichen einer periodischen Gliederung der Motivik und insgesamt eine gewisse Nüchternheit oder Objektivität im Wort-Ton-Bezug sind hier die Stichworte; zum Vergleich wird das identisch besetzte Vorgänger-"Stabat Mater" Scarlattis herangezogen, das aus dem kleinen Aufführungsapparat mit den Mitteln barocker musikalischer Rhetorik und mit einem Höchstmaß an Intensität bei der musikalischen Ausgestaltung der Affekte des Textes eine geradezu überbordende Expressivität mit einem weiten Spektrum von agonie-artiger Schmerzenstarre bis hin zum peinvollen Aufschrei herausholt – eine Flut von Emotionen überschwemmt den Hörer. Delaméa nun zieht in seiner Einführung zwar ebenfalls eine stilistische Grenzlinie, trifft aber eine andere Zuordnung: Scarlattis "Stabat Mater", dem er einen "strengen Kompositionsstil" beimisst, gerät bei ihm irgendwie in die Stile-antico-Ecke, wo es de facto nicht hingehört (denn es ist, wie beschrieben, eine hochbarock affektgesättigte Komposition), und Pergolesis "Stabat Mater" spielt er gegen ebenjene "nüchterne Geistigkeit" einer älteren, letztlich auf der Gregorianik und auf der Vokalpolyphonie der Renaissance basierenden Musikauffassung aus. Diese Zuordnung ist nach Ansicht des Rezensenten falsch: Weder hat Scarlattis Werk mehr als andere hochbarocke Musik mit dem Stile antico zu tun, noch ist Pergolesis "Stabat Mater" ein typisches Elaborat des Hochbarock. Interessant wäre nun zu erfahren, inwieweit Biondis Auffassung des Stücks von der Sicht Delaméas beeinflusst ist, denn er deutet das "Stabat Mater" ganz vom barocken Affekt her: Häufiger Einsatz von Vibrato in den Instrumental- und den Vokalpartien, akzentreiche und insgesamt ausladende Dynamik sowie ausgiebige Auszierung der Continuopartie sind Elemente einer teilweise bis zum Bersten gespannten Interpretationshaltung, die von allen Beteiligten mittels höchst feinnerviger, hypersensibler (gelegentlich beinahe hysterischer) Ausgestaltung ihrer Partien mitvollzogen wird. Biondi zieht das Stück damit ganz auf die Seite barocker Ausdrucksfülle und verdeckt weitgehend die frühklassischen Elemente der Partitur. Wie schon Alessandrini in seiner Aufnahme versucht er dem tänzerischen "Quae moerebat" u. a. durch hohes Tempo und einen Besetzungswechsel im Continuo von der Orgel zum Cembalo angsterfülltes Gehetztsein abzugewinnen – nun ja, der Satz bleibt mit seinen Synkopen dennoch eine fetzige Tanznummer. Kurzum: Mehrere Fragezeichen möchte der Rezensent hinter diese an sich durchaus beeindruckende, in ihrer Radikalität sicher innovative Interpretation machen. Besonders die Sänger geben im beschriebenen Interpretationsrahmen ihr Bestes, und das ist durchaus mitreißend – aber ist das wirklich noch Pergolesis "Stabat Mater"? Eine möglichst breite Diskussion darüber wäre wünschenswert.

Michael Wersin, 01.09.2007


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