Was ist ein Tenor? Auf jeden Fall viel mehr als wir es uns längst in einem allzu sehr auf Schubladen beschränkten Fach-Denken eingeprägt haben. Nachdem der unglaublich vokalversatile Amerikaner Michael Spyres mit einem Rossini-Tenorduett-Album bereits schon einmal seine längst vergessen geglaubten Baritenore-Fähigkeiten zur Schau gestellt hat, Agilität plus dunkles Timbre, folgte ein Album, das uns über den Höhenrang wie die Tiefenerkundungen dieser Stimme vom Postillon du Lonjumeau über den Grafen Luna bis zum Lohengrin (den er angeblich in Bayreuth singen soll) staunen ließ. Spyres führte zudem alle Stimmgenres in Berlioz’ Nicht-Zyklus „Les nuits d’été mit einer Kehle aus.
Jetzt zeigt er uns auf seiner jüngsten Veröffentlichung „Contra-Tenor“, zu was ein echter Tenor in der Barockoper fähig ist. Vom fülligen Helden bis zum miesen Intriganten reicht das Rollenspektrum – wenn man die wenigen Spitzenstimmvertreter damals nur gelassen hat; meist hatten ja die Kastraten (heute die Countertenöre) und die Sopranistinnen eindeutig den Vortritt. Michael Spyres, spritzig wie farbenreich unterstützt von der bewährten Alte-Musik-Banda Il Pomo d’Oro, diesmal unter dem wendigen Francesco Corti, er lässt stilistisch nichts aus: Gemäß seinem Wahlspruch „Virilität und Kraft verbunden mit Anmut und Schönheit“ sind französische und venezianische, neapolitanische und Händels Londoner Barockopernweisen wie -verzierungen aufgeboten, dazu der frühklassische Gluck-Orpheus und Mozarts Mitridate. Seltenes von Vinci, Porpora und Piccini ist im Angebot. Und unter den drei Weltpremieren fällt neben Galuppi und Hasse besonders die in ihrem Tonumfang fast unsingbare Arie „Se il mio paterno amore“ aus Gaetano Latillas „Siroe, re di Persia“ auf. Ein wirklich kaum glaubliches Vokalvergnügen wie -festmahl über dreieinhalb Oktaven.

Manuel Brug, 22.04.2023

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