Spätestens seit seiner 2019 erschienenen Einspielung „An UnRuly Manifesto“ an der Seite der viel zu früh verstorbenen Trompeterin Jaimie Branch gilt James Brandon Lewis als eine der wichtigsten neuen Stimmen auf dem Tenorsaxofon. Mit „Eye of I“ beweist der 1983 in Buffalo geborene Wahl-New-Yorker, warum das US-Fachblatt Downbeat mit seiner Entscheidung richtig lag, ihn 2020 zum „Rising Star“ in seiner Instrumentenkategorie zu ernennen: Lewis führt das Erbe von John Coltrane, David Murray oder Archie Shepp auf seine ganz eigene Art in die Gegenwart.
Was ihn mit den großen Vorgängern verbindet, ist die tiefe, mit allen Weihwassern des Gospels gewaschene Spiritualität seines Tons. Der 39-Jährige klingt wie ein Prediger, der stets das rechte Maß zwischen wohlgesetzter Rede und ekstatischer Entgrenzung findet. Gleichzeitig macht Lewis aber auch unmissverständlich klar, dass er als Kind der 1980er mit HipHop und Post-Punk aufwuchs.
Dieser Einfluss scheint auf „Eye of I“ immer wieder deutlich durch: So jagt Chris Hoffman sein Cello, das in Lewis’ ungewöhnlich besetztem Trio neben Max Jaffes Drums und Elektropercussions verschiedenste Funktionen einnimmt, gerne durch den Verzerrer. Und zum Albumabschluss lässt sich der Tenorsaxofonist von den ehemaligen Mitgliedern der US-Punkband Fugazi bei dem rauen Wiegenlied „Fear Not“ begleiten. Nicht selten klingt er dabei wie eine unnachahmliche Mischung aus Jazz-Altvorderem und grollendem Sprechsänger mit Hardcore-Hintergrund – gewissermaßen wie Sonny und Henry Rollins in einer Person.
Ohnehin scheint Lewis mit einseitigen Festlegungen nicht viel anfangen zu können. Und so erweist sich „Eye of I“ wie die Playlist eines unvoreingenommenen musikalischen Geistes mit einem Faible für religiöse Intensität. Da steht dann der Soul eines Donny Hathaway (das ungemein berührende „Someday We’ll All Be Free“ mit dem Kornettisten Kirk Knuffke als Co-Pastor) neben dem wie eine Bachkantate beginnenden „Within You Are Answers“ und Cecil Taylors Freejazz-Meditation „Womb Water“. In eine Kirche mit einem solch beseelten Homileten wie Lewis ginge man gerne.
Josef Engels, 18.03.2023
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