Erato/Warner 505419719685
(72 Min., 10/2021)
Zu Lebzeiten von Hector Berlioz wurde die Liedsammlung „Les nuits d’été“ niemals als Ganzes aufgeführt. Die Widmung der Klavierfassung gehörte einer einzigen Dame, die Orchestrierung des mal irisierenden, mal schmeichelnden, mal verstörenden Sextetts auf prototypisch romantische Texte von Théophile Gautier besitzt für jedes einzelne Lied einen anderen Zueignungsträger. Deshalb existieren auch verschiedene autorisierte Transpositionen. Am meisten verbreitet ist die Fassung für Sopran oder Mezzo. Tenöre haben sich nur selten an die mal gefährlich hohen, mal verdüstert tiefliegenden lyrischen Miniaturen gewagt. Und man muss schon bis zu Nicolai Gedda zurückkehren, um eine wirklich befriedigende Tenoreinspielung zu finden.
Jetzt gibt es eine neue, frische, rundum begeisternde. Natürlich vom amerikanischen Baritenore Michael Spyres, der zusammen mit dem Berlioz-Spezialisten John Nelson die grandiose Berlioz-Reihe seines Labels mit dem fantastisch farbenreichen Philharmonischen Orchester Straßburg würdig fortsetzt. Aber mehr noch: Spyres singt alle Lieder in der Originalfassung, steigt also sogar bis in die Bassregion hinab. Das ist nicht nur einmalig, sondern zudem vollendet gelungen. Ob es versonnen über Venedigs Lagunen geht, ob er den Geist der Rose zart beschwört, das Lied des einsamen Fischers anstimmt, oder sich auf dem spukhaften Friedhof gruselt, er trifft stets traumsicher Ton und Atmosphäre. Ergänzt wird diese intensiv-packende halbe Liedstunde durch eine technikolorbunte, rasant-nachsinnende Wiedergabe des als literarisch-sinfonische Wanderungen auf Byrons Spuren angelegten Bratschenkonzerts „Harold en Italie“, dem sich mit melancholischer Vibranz der jüngst unter die New Generation Artists der BBC gewählte Timothy Ridout annimmt.
Matthias Siehler, 26.11.2022
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