Mit dem solistischen Einsatz eines Melodie-Instruments ist ein hohes Maß an Intimität in der Beziehung zwischen Spielendem und Lauschendem erreicht: Im Vergleich zum Tonumfang und zur direkten Mehrstimmigkeit, die ein Tasteninstrument bietet, sind die Möglichkeiten einer Violine allein zunächst deutlich reduziert. Diese Reduziertheit kann aber auch als Intensivierung erlebt werden, wenn sie quasi nadelöhrhaft musikalische Substanz in stark konzentrierter Form transportiert.
Denn natürlich sind Georg Philipp Telemanns Fantasien für Violine solo keine einstimmige Musik, aber die Mehrstimmigkeit kann naturgemäß nur angedeutet werden: Hier und da ein gebrochener Akkord, der fragmentartig einen mehrstimmigen Satz assoziieren lässt. Immer wieder auch Zweistimmigkeit, die durch häufige Lagenwechsel innerhalb einer real bloß einstimmigen Kantilene impliziert wird: Hochartifizielle Gebilde sind solche Stücke, die beim Rezipienten die volle Kenntnis der Stilistik – hier barocken und, im Verlauf der Sammlung, auch der galanten – erfordern, damit sich in seinem Kopf die gebündelt übermittelte Musik virtuell zu dem entfaltet, was sie im realen Erklingen nur andeuten kann. In diesem sensiblen Übermittlungsvorgang liegt die eingangs erwähnte Intimität.
Alina Ibragimova beherrscht ihren Part in diesem Dialog hervorragend: Sie gestaltet Telemanns Kantilenen höchst ausdrucksvoll im Rahmen der Möglichkeiten, die eine historisch informierte Herangehensweise an dieses Repertoire bereithält. Sie zelebriert das polyphone Potential in vielen der Fantasien-Sätze mit großer Lust, sie suggeriert die vertikale Ebene der Musik, die assoziierte Mehrstimmigkeit, auf Basis der profunden Kenntnis barocker harmonischer Spannungsverläufe. Ibragimova versteht es, die Hörer in den Bann zu ziehen – mit scheinbar einfachen Mitteln, aber die Selbstverständlichkeit der Präsentation basiert auf höchster Kunstfertigkeit.

Michael Wersin, 15.10.2022

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