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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Zuletzt bescherte uns das Beethoven-Jahr 2020 einige neue Gesamtaufnahmen seiner Sinfonien: Und ausgerechnet zwei „Außenseiter“, der britische Komponist und Dirigent Thomas Adès, sowie Kataloniens Originalklang-Ikone Jordi Savall, setzten da mit historisch entschlackten Klangbildern neue Akzente revolutionärer Sogkraft und messerscharfer Präzision. Jetzt hat auch Kanadas noch immer junger Stardirigent, Yannick Nézet-Séguin, das ähnlich hochmotivierte, aber auf modernen Instrumenten agierende Chamber Orchestra of Europe in Baden-Baden dieser entscheidenden sinfonischen Prüfung unterzogen, nachdem er schon vor Jahren mit ihm die Sinfonien Robert Schumanns von aller teutonischen Last befreite. Seine schon bei Schumann praktizierte sanguinisch-optimistische, dem Leben zugewandte Grundeinstellung prägt jetzt auch seine ähnlich jugendlich-frische, leichtfüßig-drängende Lesart des Neungestirns: Sein Ziel sei es, lässt er uns in einer kurzen Notiz auf der Box wissen, dem Hörer das Gefühl zu vermitteln, als höre er die Werke zum ersten Mal. Auch wenn dieser Anspruch sehr hoch gegriffen scheint, so überrascht er uns in den ersten vier Sinfonien mit einer geradezu ansteckenden Spiellaune, die in allen Sätzen mit rekordverdächtigen Tempi und erhöhtem Puls jeglichem Titanismus abschwört. Auch Nézet-Séguins Beethoven ist ein Revolutionär, ein radikaler Erneuerer der bis dahin „diskreten“ Klassik, aber er bleibt dabei stets freundlich und positiv, ein lächelnder Rebell, der mit französischer Nonchalance anstatt mit geballter deutscher Faust seine Menschheitsappelle verkündet, und der wie ein eleganter Florettfechter alle Gefahren meistert.
Das Chamber Orchestra of Europe macht dabei seinem Namen alle Ehre, indem es mit immerhin 36 Streichern und knackig-munteren Bläsern Beethovens komplexe Strukturen betont „kammermusikalisch“ auffächert und mit feiner polyphoner Transparenz ein munteres Wechselspiel zwischen den einzelnen Gruppen veranstaltet, so dass der tausendfach erzählte musikalische Inhalt der einzelnen Werke hier in neuem, frischen, feinstrukturierten Licht erscheint und tatsächlich eine unerhörte dramatische Stringenz freisetzt: So erscheint etwa die Fortissimo-Fanfare am Ende der Durchführung im Kopfsatz der Ersten hier wie ein Aufruf zur Revolution, und man erkennt, dass dieser rebellische Grundzug sich bereits in den ersten beiden Sinfonien unüberhörbar Bahn bricht. So deutet Nézet-Séguin alle neun Sinfonien als zusammenhängende Erzählung, als eine sich ständig mehr verdichtende Botschaft der Befreiung und Verbrüderung, und so bildet auch die hier überraschend schlank und nervig tönende Neunte den krönenden Abschluss dieser Entwicklung und nicht das hypertrophe Monstrum, das wir kennen. Mit diesem vor Lebensfreude sprühenden Zyklus unterstreicht auch Nézet-Séguin die unverminderte Aktualität von Beethovens Botschaften.

Attila Csampai, 30.07.2022


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