Dieser Mann, er ist ein Phänomen: 95 Jahre alt wird der nicht trinkende, sich vegetarisch ernährende schwedische Adventist Herbert Blomstedt am 11. Juli. Und kaum merklich ist dieses Alter beim Auftreten im Konzert wie auch auf seinem jüngsten Alben-Projekt: seinem erstaunlicherweise ersten kompletten Zyklus der Sinfonien von Johannes Brahms (ergänzt um die Tragische und die Akademische Festouvertüre) mit dem Gewandhausorchester. Wo er von 1998 bis 2005 die schwierige Zeit der Kurt-Masur-Leitung auf seine Art gemeistert hat: ruhig, verlässlich, überlegen – und kontinuierlich an der Spielkultur der Musiker feilend. Die danken es ihm bis heute und begrüßen ihn jährlich als besonderen, teuren Gast. Im April 2021 wurde mit der 3. und der 4. Sinfonie der Zyklus abgeschlossen und jetzt veröffentlicht. Gegenüber den beiden ersten Alben hat sich nichts geändert: Blomstedt dirigiert seinen Brahms in mildem Licht, mit gelassen dahinschreitenden, aber organisch schwingenden Tempi. Herrlich mischt sich der Orchesterklang, um Transparenz, Offenlegen von Strukturen geht es ihm weniger. Er schwelgt im altmeisterlichen Klangzauber, das aber auf zurückhaltend zarte, fein bebende Art. Hier muss sich niemand mehr etwas beweisen, Blomstedt ist jeder Akt sich profilieren wollender Originalität fremd. Musik bleibt einfach Musik, das aber in jedem Ton auf überlegtem und überlegenem Exzellenz-Niveau. In der 3. Sinfonie atmet das eröffnende Allegro con brio Vitalität, Antrieb und Spannung, Blechbläser eifern in Weichheit und Virtuosität. Das Andante hat olympische Gelassenheit, das Poco Allegretto wird dunkel phrasiert, das Allegro belebt kontrastierende Dynamik. Auch die Vierte wird zur wahren Herbstsinfonie, als klug verblendete Mischung aus Schatten und Licht.

Matthias Siehler, 21.05.2022

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