harmonia mundi HMM 905352
(158 Min., 3/2021) 3 CDs
Claude Debussys einzige vollendete Oper „Pelléas et Mélisande“ ist schon ein sonderliches Wesen. Keine orchestrale Leitmotivik, keine einprägsamen Arieninseln geben da in den rund 150 Minuten festen Halt. Stattdessen umspült ein geheimnisvoll zartes Gewebe die Fin-de-Siècle-Vorlage Maurice Maeterlincks, in der es auf sämtliche Fragen keine eindeutige Antwort gibt. Ganz im Sinne von Stéphane Mallarmés Symbolismusformel „On ne dit pas, on suggère“ (Nicht die Dinge benennen soll man, sondern sie suggerieren) bleibt alles offen und rätselhaft. In diesem Zwitterwesen aus einem musikalischen Märchen aus uralter Zeit und moderner Anti-Oper. Und bei der die Musik zum hochsensitiven Seismografen der dämmrigen Gefilde der Seele, der Schattenreiche zwischen resignativer Einsamkeit und Sehnsucht wird. Nun will „Pelléas et Mélisande“ aber nicht nur betören oder bezaubern, sondern auch faszinieren, angesichts der subtilen Klangpalette, mit der Debussy Neuland betrat.
So hautnah wie jetzt in der Neuaufnahme von Dirigent François-Xavier Roth hat man bislang die Details dieser Partitur noch nicht erlebt. Erneut hat Roth für diese Produktion, die im Rahmen einer Neuinszenierung an der Oper Lille entstanden ist, sein Originalklang-Orchester Les Siècles dabei. Und auf den Instrumenten der Debussy-Zeit lässt man hier eine magisch tiefe und zugleich das Ohr wachrüttelnde Klangwelt voller kleiner und großer Wunder entstehen. So exzellent bis exquisit das Orchester aufspielt, so bewegen sich auch Chor und Sängerensemble gleichermaßen auf höchster Genussstufe. Für die Unergründlichkeit und lähmende Traurigkeit der Mélisande besitzt die Sopranistin Vannina Santoni einen unerhörten Reichtum an Klangfarben und Ausdrucksfacetten. Und während als Pelléas der Tenor Julian Behr die ganze latente Tragik tonschön suggeriert, ist Bariton Alexandre Duhamel ein überragend düsterer wie unberechenbarer Golaud.
Guido Fischer, 05.03.2022
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