Vor zweieinhalb Jahren hat sich der so legendäre wie umstrittene Pianist Ivo Pogorelich erstmals, nach zwei Jahrzehnten des Plattenschweigens, mit Sonaten von Ludwig van Beethoven und Sergei Rachmaninow wieder aus dem Studio zurückgemeldet. Jetzt legt der inzwischen 62-Jährige mit einer Chopin-Auswahl nach – mit Musik jenes Komponisten, mit dem er beim Abgangs-Eklat Martha Argerichs aus der Jury beim Warschauer Wettbewerb 1980 berühmt und gleich auch berüchtigt geworden war. An Pogorelichs Chopin-Spiel schieden sich wie bei fast jeder Werkauswahl die Geister: was den einen faszinierend originell erscheint, finden andere arg manieriert.
Um das Zentralstück der erstmals von ihm eingespielten 3. Klaviersonate hat der inzwischen in Lugano lebende Kroate die Nocturnes op. 48/I und op. 62/II sowie die Fantasie op. 49 gruppiert – alles Werke der Spätphase. Sie alle zeichnet ein einerseits lebhaft attackierender, dann wieder abgeklärt ruhiger Spielstil aus. Vorbei scheint freilich die Zeit schrägster Kontraste, gummiartig verbreiterter Tempi, es ist nun ein Pogorelich auf ungewöhnlichem, auch ein wenig zu ausbalanciertem Normalniveau zu erleben. Nach wie vor funkelt aber punktuell angriffslustig seine starke, russisch trainierte Technik. Immer wieder scheint er sich von der Musik tragen zu lassen. Die Brüche kommen weniger abrupt, sind gefälliger eingebettet in den meist harmonisch laufenden Klangfluss. So fehlt aber auch das jähe, manchmal hochmütige Überraschungsmoment, welches diesen nach wie vor eigenwilligen Klaviervirtuosen im Tollen wie im Ollen auszeichnete. Hier nun mag sich Ivo Pogorelich gelassen der Rente entgegenspielen.

Matthias Siehler, 19.02.2022

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