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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Kirtan: Turiya Sings

Alice Coltrane

Impulse/Universal 3593975
(61 Min., 1981)

Es ist gar nicht so lange her, dass die landläufige Expertenmeinung über Werk und Wirken von Alice Coltrane nicht die allerbeste war. Noch im Jahr 2002 hieß es etwa in Martin Kunzlers Jazz-Lexikon, dass ihr Klavierspiel „technisch begrenzt“ sei und sie zu „mitunter schwülstig wirkenden Klang-Environments“ neige. Wie schnell sich die Zeiten doch geändert haben: Die 2007 verstorbene Pianistin, Harfenistin, Organistin und Komponistin wird inzwischen als Säulenheilige des Spiritual Jazz verehrt, der in der Musik von Kamasi Washington, Emma-Jean Thackray oder Nubya Garcia gerade ein großes Comeback feiert.
Diese Wiederentdeckung durch eine jüngere Jazzergeneration mag einer der Gründe sein, weshalb sich ihr Sohn Ravi Coltrane dazu entschieden hat, nach den wiedergefundenen Einspielungen des Vaters nun auch etwas bislang Unbekanntes aus den Archiv-Beständen der Mutter herauszubringen. Bei „Kirtan: Turiya Sings“ handelt es sich um eine Aufnahme aus dem Nachlass der Musikerin, auf der sie nur von einer Wurlitzer-Orgel begleitet Gebets-Mantras auf Sanskrit singt. Die Songs waren nicht für die Öffentlichkeit gedacht, sondern exklusiv für die Mitglieder ihres Ashrams, den die Saxofonisten-Witwe nach dem Tod ihres Mannes John Coltrane in den Hügeln von Santa Monica gegründet hatte.
Auch wenn wir es hier eigentlich nur mit Gebrauchsmusik für religiöse Zwecke zu tun haben, rühren diese Bhajans, diese geistlichen Lieder, auf eigentümliche Weise auch 40 Jahre nach ihrem Entstehen das Herz. Vor allem in dieser radikal entschlackten Form. Denn ursprünglich waren die Songs mit lauter Overdubs versehen, mit Chorgesang und Synthesizer-Zusätzen, was dem Vernehmen nach nicht immer toll geklungen haben soll.
In der hier veröffentlichten Version fühlt es sich allerdings so an, als säße man zu Füßen von Turiyasangitananda, wie sich Alice Coltrane ab Ende der 1970er-Jahre als Lehrerin der indischen Vedanta-Philosophie nannte, und werde von ihr sanft in einen anderen Bewusstseinszustand transportiert. Mit kehliger Stimme wiederholt sie unermüdlich gewisse Gebetsformeln und schlägt eine so noch nicht gekannte Brücke zwischen der afroamerikanischen Musikkultur und Krishna-Chants. Man hört den Blues, die Ekstase der Gospel-Gesänge oder die Synkopen des Swing tief drin versteckt in den getragenen Tönen der Orgel. Während in der Hymne „Charanam“ ein Song der Doors zu schlummern scheint mit einem erleuchteten Ray Manzarek an den Tasten, könnte „Pranadhana“ fast schon als aktuelle Indie-Rock-Nummer durchgehen.
Bleibt nur die letzte große Frage: die der Einschätzung. Wie soll man über eine Aufnahme urteilen, die gar nicht für die Veröffentlichung in einem künstlerischen Kontext gedacht war und sich durch das Fehlen von improvisatorischen oder dramaturgischen Elementen komplett den klassischen Jazz-Bewertungsmustern entzieht? Sicher ist nur: „Kirtan: Turiya Sings“ ist eine der seltsamsten Veröffentlichungen des Jahres 2021.

Josef Engels, 21.08.2021


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