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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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On The Tender Spot Of Every Calloused Moment

Ambrose Akinmusire

Blue Note/Universal 0892619
(48 Min., 2019)

Rapper. Jazzrock-Wumms. Streicher. Für seine letzte Einspielung „Origami Harvest“ fuhr der kalifornische Trompeter Ambrose Akinmusire einiges auf, um zu zeigen, wie sich Schwarze in den USA der Gegenwart buchstäblich zusammenfalten lassen müssen.
Dass der Nachfolger ungleich reduzierter gedacht ist, macht Akinmusire gleich zu Beginn klar. Mutterseelenallein bläst er da sein Horn, entlockt ihm seltsame kleine Wendungen und streichelt zärtlich die sonischen Schwielen, von denen im elaborierten Album-Titel „On The Tender Spot Of Every Calloused Moment“ die Rede ist.
Sei es ihm auf „Origami Harvest“ um Kontraste gegangen, so beschäftige er sich jetzt mit dem Blues, erklärt der Trompeter. Wenn die Band im Eröffnungsstück „Tide of Hyacinth“ nach dem Solo-Intro des Leaders einsetzt, muss man allerdings feststellen: Mit den landläufigen Vorstellungen vom Blues hat das nicht viel zu tun. Harish Raghavan lässt die Saiten des Kontrabasses quietschen wie feuchte Finger auf einer beschlagenen Fensterscheibe, Pianist Sam Harris schichtet atonale Akkordblöcke, Schlagzeuger Justin Brown und Percussionist Jesus Diaz inszenieren Protestmärsche auf den Fellen.
Auch wenn das Stück nach und nach an Form gewinnt, weiß man nie, wo man dran ist. Nervöse abstrakte Unisoni wie aus der Neuen Musik sind zu hören. Afrokubanischer Sprechgesang. Krumme Ostinati. Darüber Akinmusires Trompete, die gleichzeitig voller Kraft und voller Zweifel ist. Und immer wieder Hässliches ausspuckt. So wie man es tut, wenn einem ein Insekt in den Mund geflogen ist.
Der 38-Jährige schafft auf der Aufnahme freilich auch Inseln der Ruhe, des Nachdenkens und der schmerzlich-schönen Trauer. So in der Ballade „Yessss“, dem Duett „Cynical Sideliners“ mit der Sängerin Genevieve Artadi oder in „Roy“, dem auf einer Kirchenhymne basierenden Nachruf auf den geschätzten Trompetenkollegen Roy Hargrove.
Dennoch steht die intensive Arbeit an neuen Ausdrucksmöglichkeiten für altes Leiden im Vordergrund. Wie der Blues des 21. Jahrhunderts klingen könnte, zeigt Akinmusire an vielen Stellen auf dem Album. Etwa in „Reset (quiet victories&celebrated defeats)“, in dem die Trompete ein Stilett sein kann, das blitzend durch die Luft geworfen wird oder das Murmeln eines Sängers aus dem Mississippi-Delta.
Am radikalsten aber geht der Blechbläser in der Nummer vor, die wohl nicht ohne Grund „Blues“ heißt: Da ist zunächst alles nur Geräusch. Und wenn sich das Rasseln, Quietschen und Fiepen irgendwann zu einem metrisch uneindeutigen Pulsieren verfestigen, dann stellt sich ein seltsames Gefühl ein. Vertraut klingt das, aber auch verstörend neu. So muss es gewesen sein, als 1964 zum ersten Mal das berühmte zweite Quintett von Miles Davis in Erscheinung trat.

Josef Engels, 29.08.2020


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