home

N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Responsive image mb-5

Heaven & Earth

Kamasi Washington

Young Turks Recordings/Indigo YT176
(183 Min.) 3 CDs

Als „Jazz-Innovator“ feiert das Pressematerial den Saxophonisten Kamasi Washington. Das ist er nicht. Wohl aber hat er es geschafft, mit einer perfekt durcharbeiteten Melange aus Jazz, Soul, Funk, Brassrock, Filmmusik, Musical, Gospel und anderen Elementen der amerikanischen Musikkultur ein breites, weit über die Jazzszene hinausreichendes Publikum zu faszinieren. Dieses kann in seinen Werken vieles entdecken, was es aus den Popcharts kennt. Das wirkt manchmal banal, doch der flüchtige Eindruck täuscht, denn unter dieser mit Bekanntem kokettierenden Oberfläche brodelt ein Sud aus sich Rhythmen, in denen sich Swing, Rock, afro-karibische, afro-kubanische und lateinamerikanische Einflüsse vermengen. Andererseits blasen Kamasi Washington, Ryan Porter und Dontae Winslow auf Saxophonen, Posaune und Trompete Soli, die auch eine lupenreine Jazzdisc schmücken würden.
Für das Monumentalwerk hat der Multiinstrumentalist Kamasi Washington erstklassige Musiker aus der Rap- und HipHop-Szene um sich versammelt hat. Mit ihnen hat der studierte Musikethnologe über Jahrzehnte seine grundlegenden musikalischen Erfahrungen gesammelt, die in seine Kompositionen einfließen. Für ihn ist die Tradition des Jazz folglich nur eines von vielen musikalischen Genres, aus denen er schöpfen kann. Ähnlich wie vor Jahrzehnten der Produzent Kip Hanrahan bringt er zusammen, was die im eigenen musikalischen Kosmos zur Verfügung steht – alle stilistischen Grenzen hinter sich lassend.
Im Doppelalbum „Heaven & Earth“ repräsentiert die Disc „Earth“ jene „Welt, wie ich sie um mich herum sehe“, erklärt Washington auf dem Cover. Die Disc „„Heaven“ hingegen repräsentiert die Welt, „wie ich sie ihn meinem Inneren sehe.“ Der Zustand der Erde gefällt ihm nicht. Die Melodien und der mehrstimmige Gesang im einleitenden „Fists Of Fury“ erinnern vordergründig an die Hippiesongs aus dem Musical „Hair“ - allerdings träumt Washington in dieser Fortentwicklung des Titelsongs von Bruce Lees gleichnamigem Martial Arts Film keineswegs von einer friedlich-verträumten Parallelgesellschaft, sondern davon, ähnlich wie der Filmheld mit Mord und Totschlag unter seinen Gegnern auszuräumen. „Unsere Zeit als Opfer ist vorbei. Wir fragen nicht länger nach Gerechtigkeit. Wir nehmen die Rache in die Hand“. Doch die Erde bietet mehr. So wärmt in „Testify“ der Sonnenaufgang das Herz und lässt etwas von der Liebe zu den Menschen ahnen.
Ganz anders geht es auf „Heaven“ zu. Als gälte es, einen Hollywood-Film akustisch auszustaffieren, eröffnet „The Space Travelers Lullaby“ mit Geigen, Klavier und Chor die zweite Scheibe. Nun wirkt alles klarer, liebevoller und friedlicher, und in „Show Us The Way“ klingen Gospelchöre an, die verwaschen „Oh Lord“ intonieren. Zu diesem religiösen Bekenntnis bläst Washington so weltentrückt wie vor fünfzig Jahren John Coltrane auf den späten Trance-Scheiben. Der spirituelle Altmeister allerdings hätte auf die schmachtenden Gesänge verzichtet. Washington hingegen illustriert plakativ, dass es im Himmel nur noch Schönes gibt. Das finale „Will You Sing“ kommt dann auch mit HipHop-Beats und Sakralchor daher. Damit hat die einleitende Aggressivität der „Fists of Fury“ ihren Gegenpol gefunden.
Somit scheint alles in Ordnung. Aber Kamasi Washington will uns mehr sagen. Denn sein Album ist nur scheinbar ein Doppelalbum. Die mittlere Fläche im dreiteiligen Digipack wirkt ungewöhnlich dick, und wer die scheinbare Kartonkante genauer ansieht, entdeckt eine Perforation. Diese mit einem spitzen Messer aufzuschneiden, öffnet den Zugang zu einer „hidden disc“, einer dritten, 38 Minuten langen, mit „Choice“ beschrifteten Scheibe. Washington hat seine Wahl getroffen: Er wählt Liebe, Wohlklang und Familie. Dies spiegelt sich auch in der wesentlich gelasseneren Musik, in der er sich viel Raum für coltraneske, von Klavier, Keyboard, Bass und Schlagzeug begleitete Passagen, kann aber auch nicht völlig von Bombast und Chören und Hippie-Reminiszenzen lassen.

Werner Stiefele, 21.07.2018


Diese CD können Sie kaufen bei:

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen


Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.



Kommentare

Kommentar posten

Für diese Rezension gibt es noch keine Kommentare.


Abo

Top