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Als wir zum vereinbarten Termin an einem verregneten Samstagvormittag im Steigenberger-Hotel in Bad Reichenhall eintreffen, finden wir Christoph Prégardien im weiträumigen Restaurant, wo er mit Frau und acht Monate alter Tochter noch beim Frühstück sitzt. Sehr herzlich ist die Begrüßung samt Einladung, sich mit an den Tisch zu gesellen. Augenblicklich entwickelt sich eine angeregte Konversation mit dem Sänger, der auf eine erfüllte Karriere vor allem im Bereich Lied und Oratorium zurückblicken kann – eine umfangreich dokumentierte Karriere: Auf knapp 140 CDs ist Prégardiens Stimme zu hören, über 20 davon sind Solorezitals mit Liedprogrammen. An CD-Aufnahmen schätzt Prégardien den »Werbeeffekt«, der für die geschäftsnotwendige Popularität eines Sängers heutzutage von großer Wichtigkeit ist. Andererseits sieht er durchaus auch das Problem der Maßstäbe setzenden Eigenschaft gelungener Aufnahmen: Das mit Spitzenleistungen aus dem Studio wohlvertraute Publikum erwartet Gleiches oder zumindest Ähnliches auch stets in konzertantem Rahmen.
Anfang des Jahres brachte er Schuberts »Schöne Müllerin« ein zweites Mal auf CD heraus, begleitet von Michael Gees, der schon seit Jahrzehnten Prégardiens Klavierpartner ist – ebenso wie Andreas Staier, mit dem Prégardien die »Müllerin« 1990 schon einmal produziert hat. Eigenartige Überschneidung: Staier, der historisch informierte Hammerklavierspezialist, habe ihm oft gesagt, er müsse Schuberts Lieder verzieren – und nun, wo Prégardien sich anlässlich seiner zweiten »Schönen Müllerin« dazu entschlossen hat, begleitet nicht Staier, sondern der »moderne« Pianist Gees. Prégardien wertet diesen Umstand als Beleg dafür, dass ihm interpretatorisches Schubladendenken fremd ist. Dafür tritt Staier nun als Begleiter auf der neuesten Lied-CD Prégardiens in Erscheinung: Schuberts »Schwanengesang «, wieder reichhaltig verziert, diesmal mit dem Hammerklavier akkompagniert.
Ornamente hin, Ornamente her – für Prégardien stehen die aus der Lust am Experimentieren entstandenen Verzierungen nicht im Vordergrund. Was ihn an Schuberts Liedern – ebenso wie an denjenigen anderer Komponisten – interessiert, ist die Psychologie, die innere Entwicklung der zu Wort kommenden Charaktere. Ob er solchen Aspekten »historisierend« oder »modern« nachspürt, ist für ihn zweitrangig. Wichtig ist ihm die Wahl eines Partners, mit dem er auf jeder Ebene des komplexen Interpretationsvorgangs harmonieren kann. Die jeweils jahrzehntelang erarbeitete und erprobte Partnerschaft mit Gees wie mit Staier spricht in dieser Hinsicht für sich.
Zurückblicken auf gut drei Jahrzehnte eines Sängerlebens: Dafür hat sich Prégardien bisher kaum Zeit genommen. Welche Gefühle bewegen ihn, wenn er es nun doch einmal tut? Dankbarkeit steht im Vordergrund, Dankbarkeit für eine geglückte, große Karriere, die für den ehemaligen Limburger Domsingknaben so nicht vorhersehbar war. Besonnen hat er diese Karriere geführt, hat stets mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklung und Pflege seiner Stimme im Auge behalten, hat sich die nötige Höhensicherheit für die Tenorlage erarbeitet, die ihm, wie er unumwunden zugibt, zunächst nicht ohne Weiteres zur Verfügung stand. So manchen jungen Kollegen sah er an sich vorbeiziehen, durchstarten wie eine Rakete – und schnell verglühen. Er hat Nachhaltigkeit, Bescheidenheit und kreativen Umgang mit den eigenen Fähigkeiten und auch mit deren Grenzen dagegengesetzt – und sich damit dauerhafte stimmliche Gesundheit sowie unverbrauchte künstlerische Frische gesichert. Seine zweite »Schöne Müllerin« und sein »Schwanengesang« zeigen dies auf eindrucksvolle Weise.
Michael Wersin, 03.05.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2008
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