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Hin und wieder wird die beschauliche Vossiusstraat am Rande von Amsterdams Vondelpark Schauplatz einer eigentümlichen Prozedur. Immer wenn der Kran am Giebel von Nummer 18 leise zu knirschen beginnt und nach einiger Zeit sachte schwankend ein blank polierter Holzkasten aus dem Dachgeschoss heruntergelassen wird, wissen die Nachbarn, dass Ronald Brautigam mal wieder auf Reisen geht. Und wenn sie sich für klassische Musik interessieren, wissen sie auch, dass der Holzkasten ein Hammerflügel und dass sein Eigentümer derzeit einer der gefragtesten Virtuosen auf diesem Instrument ist. Manchmal allerdings kriegen die Nachbarn nicht mit, wenn Ronald Brautigam auf Tour geht. Wenn er ein Konzert auf einem modernen Steinway gibt, bleibt das Dachfenster von Nummer 18 zu und nur ein freundlicher älterer Herr mit langen weißen Haaren verlässt irgendwann das schmale historische Bürgerhaus, das außer ihm noch fünf Katzen, drei Klaviere und eine wechselnde Anzahl teurer Weinflaschen beherbergt.
Ronald Brautigam ist gewissermaßen der Dr. Jekyll & Mr. Hyde der Klassikszene: auf der einen Seite der erfolgreiche Konzertpianist, der bei Rudolf Serkin studierte und mit Rattle und Haitink, Norrington und Chailly konzertiert hat. Auf der anderen Seite jedoch hat sich seit Ende der Achtzigerjahre eine zweite Podiumsexistenz abgespalten, die immer mehr Raum im Leben des Ronald Brautigam einnimmt: Mit seinen Gesamteinspielungen der Mozart- und Haydnsonaten auf dem Hammerflügel ist er zu einem Star der historischen Aufführungspraxis geworden und sein gerade im Entstehen begriffener Beethovenzyklus wird vor allem in Deutschland schon als Offenbarung gefeiert. Eigentlich, erklärt er, sei das alles ganz zufällig gekommen: »Ich hatte immer schon das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, wenn ich Mozart auf dem Steinway spielte. 1988 lernte ich dann den Hammerflügelbauer Paul McNulty kennen, der mich einlud, seine Instrumente einmal auszuprobieren. Und das war für mich das ultimative Aha-Erlebnis.«
Noch immer schwört Brautigam auf die Flügel von McNulty und ihren farbenreichen, singenden Ton. Im Gegensatz zu vielen Fortepiano-Spezialisten geht es ihm nicht darum, für jedes Werk möglichst das historisch passgenaue Instrument zu finden – Brautigam ist Pragmatiker, spielt Fortepiano, nennt aber als seine Referenzinterpreten für Beethoven dennoch die Heroen Rudolf Serkin und Artur Schnabel. Auch für seine Einspielung des gesamten Beethoven-Klavierwerks kommt Brautigam mit drei Flügeln aus. Er gebe schließlich Konzerte und keine Lectures, insistiert er, nicht das Klavier, sondern der Pianist sei der Star der Show. »Natürlich hat der Klavierbau zur Beethovenzeit rasante Fortschritte gemacht, aber deshalb haben sich die Leute doch nicht für jedes Stück auch ein neues Instrument angeschafft.«
Für Beethovens Klavierkonzerte, die er gerade mit dem Briten Andrew Parrott aufnimmt, greift Brautigam sogar wieder auf den Steinway zurück – um zu zeigen, dass es nicht nur das Instrument allein ist, das seine Interpretationen frisch klingen lässt. »Nach etwa 35 Fortepiano-Einspielungen dachte ich, es sei mal wieder an der Zeit. Zumal meine Erfahrungen mit dem Hammerflügel auch mein Spiel auf dem Steinway nachhaltig verändert haben. Man wird da automatisch inspiriert: Meine Tongebung zum Beispiel ist jetzt viel leichter, das gibt zugleich auch die Chance, hin und wieder aggressiver zu klingen.« Inzwischen hat er übrigens auch mit dem Mozartspiel auf dem Steinway wieder seinen Frieden gemacht. Und es sieht ganz so aus, als ob die Geschichte von Jekyll & Hyde für dieses Mal gut ausgegangen ist.
Jörg Königsdorf, 03.05.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2008
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