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Was ist der Unterschied zwischen einem Turner und einem Bassbariton? – Das Becken. Während beim Sportler die Hüftknochen fixiert sein müssen, damit der Oberkörper frei ausschwingen kann, ist es beim Singen genau umgekehrt. Erst das lockere Becken macht den guten Ton. Schlechte Voraussetzungen also für jemanden, der als Sechskämpfer mit Leibesübungen begann, und nun auf Sänger umgesattelt hat. Konstantin Wolff kann schon beim Gang zur Podiumsmitte den Berufswechsel nicht verleugnen. Der ehemalige Sportler geht dermaßen elastisch wippend zum Notenständer, als wolle er am Barren einen Aufschwung vollführen. Das Merkwürdigste aber: Eigentlich singt er auch so.
Die schwungvolle Höhe, das sonor feste Fundament und eine schlanke Fähigkeit zur vokalen Biegung zeichnen Konstantin Wolff als Angehörigen jener neuen Sängergeneration aus, die privat statt in den Konzertsaal lieber ins Fitnessstudio geht. Seinem schmetternd-eleganten Pathos werden dabei – zu Recht – ähnlich volle Farben attestiert wie dem frühen Thomas Quasthoff. Von der Schule um Fischer-Dieskau (in dessen Meisterkurs Wolff eher auf Distanz ging) trennt ihn ein durchaus moderneres Kunstverständnis. Wolff fühlt sich von der »Gebetshaltung« gegenüber klassischer Musik »genervt«. (Fischer-Dieskau, so kolportiert er selbst, soll an diesem Schüler »verzweifelt« sein.)
Geboren in Gießen, aufgewachsen in Bensheim an der Bergstraße, wurde der gerade 30-Jährige buchstäblich vom Fleck weg engagiert, als er in Lille die »Don Quichotte«-Gesänge von Maurice Ravel und Jacques Ibert sang. Die harmonia-mundi-Chefin Eva Coutaz, stets auf Talentsuche, kam hinter die Bühne und sagte ihm schlicht und einfach, »man könne doch mal ein Album miteinander machen«. Die Idee für die jetzt erschienene Victor-Hugo-CD kam von Wolffs Karlsruher Lehrer Donald Litaker. Wolff forschte nach Unbekanntem – und wurde dank Sammlerhilfe seines Baritonkollegen François Le Roux in finsteren Ecken des 19. Jahrhunderts fündig. »Ich war schon erstaunt, wie viel schlechte Musik damals komponiert wurde«, meint er – und lacht.
Die Auswahl, die Wolff dank perfektem Französisch idiomatisch und feinnervig intoniert, ist ein originell tieftönendes Gegenstück zu einer vor Jahren erschienenen CD von Felicity Lott, die schon einmal in dieser Repertoireecke ausgekehrt hat. Wolff indes hat noch gründlicher gereinigt und ist dabei nicht nur auf pittoreske WolffStaubfänger von Liszt, Fauré, Saint-Saëns und Hahn gestoßen, sondern auch auf abstruse Herrlichkeiten wie Benjamin Godards »Contemplation« und chansonhafte Petitessen von Paul Vidal und Louis Lacombe. Ein weiterer hörbarer Unterschied: Wolff kommt von der Alten Musik her, und zwar von so diametral entgegengesetzten Meistern wie René Jacobs und William Christie. »René Jacobs schreibt jede Verzierung aus«, benennt Wolff den Unterschied der beiden Granden. Jacobs beschränke die Sängerfreiheiten (vielleicht weil er selbst Sänger war). Dafür besetzte er Wolff als Silvano für Cavallis »Calisto« (Brüssel 2009) und als Sprecher in der »Zauberflöte« (Aix 2009). »Harte Schule«, sagt Konstantin Wolff. Gute Schule, wie man durch zahlreiche andere Beispiele weiß. Der ehemalige Sechskampfvirtuose, der erst mit 18 Gesangsunterricht nahm, beschert der Klassik einen sportlichen Aufschwung, den sie brauchen kann. Er klingt wie Osmin und sieht aus wie Belmonte.
Robert Fraunholzer, 19.04.2014, RONDO Ausgabe 6 / 2008
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