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Der reißerische Titel des »Albums«, wie man in der popkulturell-gleichgeschalteten Szene mittlerweile eine Veröffentlichung nennt, ließ mich das Schlimmste fürchten. Meine Bedenken wären noch größer gewesen, würden wir nicht gerade hören können, wie sich der 28-jährige Moskauer Pianist Nikolai Tokarev allmählich aus den Niederungen gecasteter Sternchen erhebt und dabei auch die Tour durch die kleinen Säle der Provinz nicht scheut – wo heutzutage noch die engagiertesten Impresarios wirken, die nicht gleich jedes medial gehypte »Produkt« einladen (und das nicht nur, weil die ohnehin zu teuer wären). Sonaten Scarlattis und Cimarosas, nicht bloß als virtuose Miniaturen hingeworfen, sondern befragt als sonatenhafte Vorstufen zu einer überaus bedächtig und schön ausgeformten As-Dur-Sonate Haydns: Wer in der vergangenen Saison ein Programm präsentierte, hinter dessen etwas bizarrer Anmutung solch gehörige Interpretationsklugheit wartet, der hat Anspruch darauf, nicht bloß an seinen gekonnten, wenn auch etwas matten CD-Produktionen der Vergangenheit gemessen zu werden. Und in der Tat, hinter dem Titel, den man jetzt einmal vergessen sollte, verbirgt sich ein mehrdimensionales Konzept, das ihm garantiert von keiner PR-Abteilung eingeblasen worden ist. Da freut man sich ja schon.
Er habe nach ganz verschiedenen Wegen gesucht, auf denen man sich früher und heute auf den Tasten mit Tschaikowsky beschäftigt habe, erzählt der Pianist. Die Anregung dazu sei aus der eigenen Familie gekommen: »Mein Vater ist auch Pianist, er hat zusammen mit Mikhail Pletnew am Gnessin-Institut studiert. Er kannte die Pletnew-Bearbeitungen der Ballette Tschaikowskys. Es ist ein Hobby von ihm, seltene Bearbeitungen zu sammeln. Er hat mich auch auf die Pabst-Fantasie gebracht. Das ist ja ein nahezu vergessenes Stück heute.« Tokarev fand in dessen »Dornröschen«-Fantasie die in Russland lebendige Liszt-Tradition. Paul Pabst, deutschstämmiger Pianist und Freund Tschaikowskys, war zu seinen Zeiten berühmt für seine Arrangements. Heute kennen ihn nur noch ein paar Liebhaber. Damit geht Tokarev zu seinen eignen Wurzeln, ist Pabst doch einer der Gründerväter der russischen Klavierschule; Konstantin Igumnow und Alexander Goldenweiser, zwei Granden des Moskauer Konservatoriums, waren Pabsts Schüler. Mit Pletnews Suite aus dem »Nussknacker« spricht dann das 20. Jahrhundert, das Ererbtes ehrfürchtig und notengetreu transkribiert. Trotzdem verkörpere Pletnew für ihn noch ein Stück russisch-romantischer Schule, meint Tokarev. Und der pianistische Urenkel Pabsts ist er auch noch. So wächst das programmatische Gewebe zusammen. Den Beschluss macht Alexander Rosenblatt, ein enger Bekannter Tokarevs: Das ist das 21. Jahrhundert, das jazzig und frei den Staub von der »Schwanensee«- Partitur bläst. »Und so kann ich drei Wege zeigen, sich pianistisch mit Tschaikowsky zu beschäftigen, die aus drei Jahrhunderten stammen und sich den drei bekanntesten Balletten widmen.« Tokarev ist sichtlich zufrieden mit seiner dramaturgischen Triade.
So ist diese familiär inspirierte CD zugleich eine Hommage an Tschaikowsky, seine russischen Arrangeure und nicht zuletzt die russische Klaviertradition. Sein größtes Vorbild ist dann auch einer ihrer Monolithen: »Sokolov ist mein Ideal, eindeutig. Langsam seinen Weg verfolgen, die Hindernisse kennen, eine Geschichte haben, das ist viel besser als sofort oben zu stehen und gar nicht zu wissen, was man dort machen soll. Stellen Sie sich vor, Sie nehmen jemanden mit ins Konzert, der noch nie zuvor klassische Musik gehört hat – und ein Pianist spielt langweilig, austauschbar. Der geht nie wieder ins Konzert. Hört er aber Sokolov, wird er ja geradezu ins Werk hineingezogen.« Dieses Bekenntnis zu einem der großen Individualisten klingt, als mache sich da einer auf den Weg, endgültig aus dem Camp der »Austauschbaren« auszuziehen.
Sony
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