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(c) Thomas Grube
Nicht nur in Kirchen oder Konzertsälen, sondern auch vor dem bunt gemischten Publikum eines Programmkinos in Berlin Mitte kann Cameron Carpenter offenbar noch für Überraschungen sorgen. „Oh – cool!“ staunt ein Pärchen, als der Organist mit einem glänzendem Lederoutfit und frisch geschorener Neopunkfrisur das Podium des Kino Babylon betritt. Und kaum hat er sich an die 1929 erbaute Kinoorgel gesetzt, um die restaurierte Fassung des Stummfilmklassikers „Das Cabinet des Dr. Caligari“ zu begleiten, folgt ein weiterer Überraschungsmoment. Denn statt expressionistischer Klänge erklingt zunächst einmal Musik von Johann Sebastian Bach. Warum, das versteht man am Ende des Films: Als sich der Erzähler als Insasse der Irrenanstalt des Dr. Caligari entpuppt, kehrt Carpenter zu Bach zurück – und im neuen Kontext wirkt diese heile, geordnete Musik plötzlich auch beängstigend ambivalent.
Das ungewöhnliche Aufeinandertreffen der Klangwelten von Kirchenorgel und Kinoorgel ist aber nur ein kleiner Vorgeschmack auf zukünftige Experimente. Denn am 9. März ist Carpenter erstmals mit der für und von ihm entworfenen „International Touring Organ“ aufgetreten, welche die Klangmöglichkeiten der Kirchen- wie Kinoorgeltradition vereinen soll. An der öffentlichen Wahrnehmung von Orgelvirtuosen könnte das digitale Instrument dabei langfristig noch sehr viel mehr verändern als die Lust des Musikers an mutigen Modestatements.
Für Carpenter bedeutet die Möglichkeit, auf einer transportablen Orgel spielen zu können, eine völlig neue Freiheit. Zwar sei auch dieses Instrument nichts fürs Handgepäck: Der Transportaufwand für den Spieltisch und das Lautsprechersystem, das sich an jede Akustik anpassen könne und wie eine Klanginstallation mit jedem Raum verbinden lasse, sei in etwa vergleichbar mit dem „eines kleinen Kammerorchesters“. Doch schon dies bedeutet für Organisten den entscheidenden Schritt zur Unabhängigkeit von Räumen und Institutionen: „Als Organist ist man ja nie Besitzer seines eigenen Instruments“, erklärt Carpenter: „Es gehört jemandem anderen und das bedeutet eine Position der Unsicherheit – und ich denke, je mehr Organisten tun, um das zu verändern, umso gesünder wird das für unseren Beruf sein.“
Nicht minder wichtig als die Befreiung des Instruments aus der physischen Immobilität ist für Carpenter die neu gewonnene musikalische Gedankenfreiheit. Wohin diese Reise gehen kann, das kann man schon im Eröffnungsstück des von Dupré über Cohen und Bernstein bis Skrjabin reichenden ersten Albums erleben, das Carpenter mit dem neuen Instrument aufgenommen hat: Es ist die Bearbeitung des Präludiums zu Bachs erster Cellosuite, das sich unter Carpenters flinken Händen und virtuosen Füßen zu einer funkensprühenden Fantasie entwickelt, die von barocken Klängen bis hin zum circensischen Pomp einer Kinoorgel führt. Ein Sakrileg ist das wohl nur dann, wenn man glaubt, virtuose Lebensfreude und Mut zum Weiterdenken vorgefundener Strukturen vom Bach’schen Erbe trennen zu können. Wer will, darf dann auch in Leonard Cohens doppeldeutigem Song „Sisters Of Mercy“ den metaphysischen Trost entdecken, den eine flüchtige intime Begegnung spenden kann. „Dieses Lied“, sagt Carpenter jedenfalls, „ist mit seiner fast religiösen Glut der Moment, an dem das Album der Kirchenmusik am nähesten kommt.“
Carsten Niemann, 05.04.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2014
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