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Ein Tenor-Interview direkt vor dem Auftritt? Kein Problem. Mark Padmore erscheint nur ein wenig früher mit dem Frack überm Arm. Gesprächsort: die Garderobe. Gleich fällt auf, die Haartracht ist ab. Zur Begründung scherzt er: »Wegen Jonas Kaufmann.« Doch tatsächlich, aus dem gelockten Orpheus britannicus von einst ist plötzlich ein spitznasiger Existenzialist geworden. Die englischen Damen, so erzählt er, jauchzen ihm immer noch ihr Bedauern nach, dass er das Goldjünglings-Image frech abgelegt hat. Und dadurch reifer, herber geworden ist als das britische Clubwesen erlaubt. Geschult wurde er am King’s College in Cambridge und geschliffen von Richard Hickox und William Christie (für Opern von Rameau und Purcell). Er hat mit allen Großmeistern der Alten Musik zahllose Male zusammengearbeitet.
Höhepunkte: sein Evangelist in Philippe Herreweghes Aufnahme der Johannes-Passion, der Don Ottavio unter Daniel Harding sowie zuletzt sein ingeniöses Händel-Arienprogramm unter Andrew Manze – eine der besten Händel- CDs seit Jahren. Seit 20 Lenzen schon türmen sich Padmores Aufnahmen ins Unermessliche. Er darf als einer der produktivsten Sänger seiner Generation gelten. Freilich ohne es je zum Superstar gebracht zu haben. So jemand wird skeptisch mit der Zeit. Die Locken fielen im Zuge einer Londoner Theaterproduktion. »Ich liebte die Aufführung, die Kritiker hassten sie.« Padmore favorisiert heute programmatische Engführungen wie die Kombination der »Winterreise« mit Texten Samuel Becketts (sinnvoll und naheliegend). »Wir brauchen eine Revolution in der Musik«, sagt er. Man sei geistig unterbeschäftigt, wenn man heute klassische Musik hört.
Dies muss man im britischen, publikumszugewandten Sinne lesen, der in Großbritannien immer noch ganz lebendig ist. In England fielen Publikum und Neue Musik nie auseinander (wie bei uns). Das Festhalten an Traditionen, an positiver Vergangenheit, ist bei Padmore sogar körperlich spürbar. Man hört, dass die hell flimmernde Ähnlichkeit mit einem Countertenor Echo seiner Knabensopran-Vergangenheit ist. »Ich habe die Jungenstimme wirklich bewahren wollen. Die Stimme rutschte tiefer wie ein langsamer Fahrstuhl. Ich habe ihn aufzuhalten versucht.« Eine nur schöne Stimme wollte Mark Padmore nie haben. Seine Wandlungsfähigkeit führte ihn bis zu Schumann und Alec Roth. Größte Bewunderung bringt er Übertenören wie Fritz Wunderlich und Léopold Simoneau entgegen. Doch blieb er, anders als diese, meist im Lager der Alten Musik. Über 100 Matthäus-Passionen und ebenso viele Johannes-Passionen weisen Padmore als Reise-Evangelisten erster Klasse aus. Inzwischen tourt er mit eigener Bachtruppe ohne Dirigent. Und ist doch vorsichtig geworden. »Alte Musik«, meint er, sei »auch nur eine Fiktion, mehr nicht.«
Zunächst ist ihm (mit dem Pianisten Roger Vignoles) ein hinreißender Ausflug zu Benjamin Brittens Folksong- und Purcellarrangements gelungen. Im Zentrum der neuen Britten-CD steht jener Zyklus geistlicher Lieder auf Texte von John Donne, den Britten 1945 nach dem Besuch deutscher Konzentrationslager komponierte – in einem finsteren Schaffensrausch binnen einer Woche. Padmore findet dafür Töne herb-empfindsamer Verinnerlichung, die deutlich machen, wie sehr wir es mit einem (erst heute international voll gewürdigten) Großmeister der Moderne jenseits ideologischer Trampelpfade zu tun haben. Dank der geschmeidigen Intellektualität und dem sehrenden Seelenton Mark Padmores ist »Before Life and After« eine der speziellsten und unverwechselbarsten CDs dieses Sommers. Ungelockt.
Robert Fraunholzer, 15.03.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2009
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