»I’m not sure charisma is my main specialty«, soll der 1947 geborene englische Ensembleleiter Andrew Parrott vor einigen Jahren konstatiert haben. Wir können bestätigen: Er gehört nicht zu den Shootingstars der Alte-Musik-Szene, deren Konterfei sich regelmäßig in allen Magazinen findet. Was jedoch Charisma hat, und zwar ein unwiderstehliches, ist die Musik, die er seit Jahrzehnten macht. Schenkte er uns nicht im Jahre 1984 eine h-Moll-Messe, die alles davorliegende, sinfonisch-oratorische Bachchor-Getöse mit einem Handstreich vom Tisch fegte? Und bescherte er uns nicht im selben Jahr (!) auch eine Monteverdi-Marienvesper, die sich bis zum heutigen Tag mit vielen später entstandenen Einspielungen problemlos messen kann? Letztere ist Gegenstand der vorliegenden 5-CD-Box, die unter anderem die 1988 eingespielten Auszüge aus »Selva morale e spirtuale« und Auszüge aus Monteverdis achtem Madrigalbuch (»Madrigali guerrieri, et amorosi«) enthält. Es singen und spielen die bewährten Kräfte des »Taverner Consort & Players«, an der Spitze des Vokalsatzes zumeist die engelsgleiche Emma Kirkby. Hört man sie und ihre Sangesschwestern etwa im Psalm »Beatus vir«, dann könnte man meinen, die Damen hätten die historisierende Aufführungspraxis erfunden – haben sie ja auch, irgendwie.
Er strebte eigentlich den Beruf des Elektroingenieurs an, aber als sein Klavierlehrer ihn Chopin spielen hörte, sagte er: »Paul, du musst Pianist werden!« Und das wurde er dann, und zwar ein erfolgreicher: In der Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte sein Durchbruch, die großen Dirigenten rissen sich um ihn. Und dennoch wurde es im weiteren Verlauf seiner Karriere wieder eigenartig still um Paul Badura-Skoda. 1956 spielte Badura-Skoda für das Label Westminster Chopins Etüden opp. 10 und 25 ein. Die Aufnahme hat nicht Schallplattengeschichte geschrieben – erstaunlicherweise, denn sie ist nicht nur spieltechnisch ausgereift, sondern zudem in interpretatorischer Hinsicht von einem leidenschaftlichen Glühen beseelt, das immer wieder aufhorchen lässt. Eine weit mehr als nur beachtliche Darbietung – gut, dass sie jetzt wieder greifbar ist. Sie wird abgerundet durch den Livemitschnitt dreier Chopinmazurkas, gespielt fast ein halbes Jahrhundert später in Fresno – die zauberhaft nonchalante, ebenso nüchterne wie elegante Interpretation eines offenbar überaus fitten 72-Jährigen.
Der Geiger Georg Kulenkampff hat traurige Berühmtheit erlangt, weil er das neu entdeckte Violinkonzert Robert Schumanns 1937 in Deutschland erstmals aufführte: Die Nazis wollten mit diesem spektakulär aus der Taufe gehobenen Stück ganz bewusste das allseits beliebte Mendelssohnkonzert ersetzen, und Kulenkampff ließ sich aus unerfindlichen Gründen vor diesen hässlichen Karren spannen, ohne eigentlich ein Parteigänger der Nazis zu sein. Zwei Jahre zuvor hatte er darauf bestanden, das Mendelssohnkonzert mit den Berliner Philharmonikern einzuspielen – die Schallplatte wurde allerdings ein reiner Exportartikel. 1944 verließ Kulenkampff, gesundheitlich schwer angeschlagen, das in Trümmern liegende Deutschland, und knüpfte in der Schweiz an seine Karriere an. Allerdings starb er bereits 1948 im Alter von 50 Jahren. Todesursache soll eine missglückte Frischzellenkur gewesen sein, bei der verseuchtes Rinderhirn zum Einsatz kam. Die vorliegenden Brahmseinspielungen (das Violinkonzert unter Schmidt-Isserstedt im Jahre 1937, das Doppelkonzert mit Enrico Mainardi unter Schuricht 1947) präsentieren Kulenkampff als ungemein konzentrierten Interpreten mit wunderschönem Ton, der auf jegliche Allüren und Schmachtfetzereien verzichtet.
Nicht etwa von «swing”, sondern einfach vom deutschen Familiennamen Schwingel leitet sich der zum Markenzeichen gewordene Name »Swingle Singers« ab: Ward Swingle, der die Gruppe 1963 in Paris gründete, hatte Vorfahren in der Alten Welt. Gut, dass sie ausgewandert sind: als »Schwingel-Sänger« wäre die Gruppe vielleicht nicht so bekannt geworden, und womöglich hat eine dem angelsächsischen Sprachraum entstammende Sängerbesetzung auch dem Sound ganz gut getan. Die in der vorliegenden Box vereinten vier Alben repräsentieren ein recht spätes Erscheinungsbild der Gruppe, dasjenige der Neunzigerjahre nämlich. Kein echter Retro-Sound also, aber die Darbietung ist stilistisch zum Teil doch erstaunlich »retro« – man ist dem altbewährten Klangbild treu geblieben. Und so geht es, wie eh und je, kreuz und quer über Stock und Stein durch Bachfugen, Mozartmenuette, Rossiniouvertüren, Folksongs aus aller Welt flankiert stets von jenem unverwechselbaren Charme, den die Gruppe schon immer hatte. Unverwüstlich, diese Idee.
Michael Wersin, 15.03.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2009
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