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Manchmal kriechen selbst jene noch zu Kreuze, von denen man es nun wirklich nicht erwartet hätte. In dieser Haltung präsentierte sich 1892 der bis dahin als Wagner-Betonkopf geltende Dirigent Hans von Bülow. Als er 18 Jahre nach seiner berühmten Abrechnung mit Giuseppe Verdis Requiem sein Urteil revidierte – und sich dafür per Brief beim Komponisten entschuldigte: »Geruht die Beichte eines reumütigen Sünders anzuhören«, bat Bülow den fast 80-jährigen Verdi. »Mein Verstand war von Fanatismus verblendet, von ultrawagnerischer ›Seide‹. Ich habe mit dem Studium Eurer letzten Werke begonnen: mit der Aida und dem Otello und dem Requiem, das mich neulich selbst in einer ziemlich dürftigen Wiedergabe bis zu Tränen bewegt hat.« Wenngleich sich Hans von Bülow nun indirekt von allen Spitzen distanzierte, die er am Vorabend der Uraufführung für die in Augsburg erscheinende Allgemeine Zeitung formuliert hatte, so konnte er ein Schlagwort nicht mehr stoppen, das bis heute die Rezeption dieser Requiem-Messe beschäftigt. Von einer »Oper im Kirchengewande« hatte Bülow da geschrieben, die am 22. Mai 1874 in San Marco in Mailand unter der Leitung Verdis uraufgeführt werden sollte.
Nun gut – Verdi höchstselbst hat sich stets gegen diese Einschätzung ausgesprochen. Etwa mit der Forderung, »dass diese Messe nicht wie eine Oper gesungen werden darf.« Und von der Besetzung des Solistenquartetts und der Dramaturgie des Werks her spricht Gewichtiges gegen Bülows Einschätzung. Bewusst hat Verdi hier auf eine für seine Opern typische Baritonstimme verzichtet. Und natürlich sucht man im traditionellen Text der katholischen Totenmesse einen psychologischen Handlungsstrang vergebens. Vielmehr stellt er eine Abfolge von Gebeten dar, beginnend mit der Bitte für die Toten um ewige Ruhe (Requiem aeternam), Frieden und Erbarmen (Kyrie) – bis hin zu den hoffnungsspendenden Sätzen des »Sanctus«, »Agnus Dei« und »Lux aeterna«. Andererseits liefert die Partitur selbst immer wieder harte Fakten, die das Opernhafte unterstreichen. Das vom Bass vorgetragene »Mors stupebit« wird sich später in Jagos »La morte è il nulla« verwandeln, während die musikalische Idee zum »Lacrymosa« aus »Don Carlo« stammt. Dieser grundlegend zwitterhafte Charakter des Requiems erfordert also von jedem Dirigenten eine Menge Fingerspitzengefühl, um das Seelenbewegende und die theatralische Wucht, all die Verzweiflung und die dann wieder lichten Momente (»Hostias et preces«) zu ertasten und gleichzeitig mit visionärer Kraft aufzuladen.
Seit Beginn der Schallaufzeichnung gibt es von dieser Totenmesse, die Verdi dem 1873 verstorbenen, hochverehrten Dichter und politisch Gleichgesinnten Alessandro Manzoni widmete, eine wahre Flut an Deutungsversuchen. Bereits 1927 dirigierte Carlo Sabaino die erste Requiem-Aufnahme. Doch wenngleich seitdem nahezu kein Jahr vergangen ist, in dem dieses aufwühlend dramatische Werk nicht neu beleuchtet wurde, hat sich im Laufe der Jahrzehnte doch nicht jeder Dirigent von Weltrang an das Stück herangetraut. So fehlen – zumindest laut der aktuellen diskografischen Aufnahmestatistik – Einspielungen von Erich und Carlos Kleiber, Otto Klemperer, Karl Böhm und George Szell. Und ob zudem jemals ein Simon Rattle sich mit diesem sakralen Donnerschlag beschäftigen wird, ist eher unwahrscheinlich. Denn mehr als nur ein Tropfen Italianità muss einem schon durch die Adern fließen, um dem fast archaischen Ernst und den elementaren »Sprengschlägen« (Ernst Bloch) standhalten zu können. Wenig verwunderlich ist es daher, dass dieses musikalische Riesenpanorama vom Leben und Sterben des Menschen besonders seine Meister bei Verdis Landsmännern gefunden hat. Arturo Toscanini, Victor de Sabata, Tullio Serafin, Carlo Maria Giulini, Riccardo Muti, Claudio Abbado und jetzt auch Antonio Pappano – diese sieben haben unter dem Strich Maßstäbe gelegt, was die innere Einheit und den gespannten Empfindungsgehalt angeht. Dass dabei selbst die klanglich mäßigen Aufnahmen und Mitschnitte aus den Jahren 1938 (Serafin), 1940 (Toscanini) und 1954 (de Sabata) genau den hochexpressiven Gestaltungswillen dokumentieren, wie er zu Stereozeiten bei den Giulinis und Abbados durchbricht, macht sie umso zeitloser.
Natürlich gibt in diesem Werk stimmlich nicht nur der Chor den Ton an. Jeder und jede in den jeweiligen Sängerquartetten ist bei diesen Italienern auf dem Zenit seines/ihres Könnens. Bei dem notengetreuen Serafin sorgen Maria Caniglia, Ebe Stignani, Beniamino Gigli und Ezio Pinza für engelsgleiches Labsal. In der schlichten Gesamtorganisation von de Sabata sticht besonders Elisabeth Schwarzkopfs beeindruckende Durchdringung des »Libera Me« hervor. Und galt bislang unter den Einspielungen Toscaninis seine Aufnahme von 1951 als das Nonplusultra, so ist ihr inzwischen der Livemitschnitt von 1940 aus der New Yorker Carnegie Hall um eine Nasenlänge voraus. Hier gibt sich Toscanini gewohnt schroff und unerbittlich in seiner Rasanz, aber das exquisit besetzte Belcanto-Quartett kann es locker mit ihm aufnehmen. Vor allem gilt das für den energisch schwungvollen wie lyrischen feinen Jussi Björling in dieser einzigen, gemeinsamen Aufnahme mit dem Über-Maestro. Im Livemitschnitt von 1938 aus London hatte Toscanini übrigens anstelle von Björling Helge Roswaenge engagiert, der an jenem Abend jedoch allzu sehr forcierte.
Ähnliches sollte dem Dänen sodann 1949 bei den Salzburger Festspielen passieren. Als ihn der damals 41-jährige Herbert von Karajan ins Team holte, zu dem Hilde Zadek, Margarete Klose und – als eigentlicher Star des Livedokuments – Boris Christoff gehörte. Wie in fast allen seinen zahlreichen Einspielungen zeigt sich Karajan als ein einzigartiger Sängerdirigent, der den Vortrag in die Schärfungen des Orchestersatzes haargenau und fesselnd einzuflechten verstand. Mehr als noch in seinen Studioaufnahmen kommt bei dieser klanglich überarbeiteten Einspielung Karajans das Vorbild Toscanini zum Vorschein. Aus dem deutschsprachigen Raum sind zudem zwei Dirigenten in Erscheinung getreten, die mit ihren Aufnahmen gleichermaßen die Requiem-Architektur hellwach und fulminant durchdringen und zugleich den erregenden Gefühlsstrom feinsinnig ausloten. Von 1954 stammt der Berliner Wurf von Ferenc Fricsay. Und 2005 bestätigte der Aachener GMD Marcus Bosch, warum sich eine Reise an den äußersten, westlichen Rand Deutschlands immer mehr lohnt.
Zu den Meilensteinen der Requiem-Diskografie gehören freilich längst schon zwei Aufnahmen, die vom Ansatz her gegensätzlicher nicht sein könnten. Frei von jeglicher Sentimentalität nahmen Carlo Maria Giulini und John Eliot Gardiner das Werk in Angriff. Der Italiener mit einer Akkuratesse in den dynamischen Nuancen und Weiten sowie mit einer mitschwingenden Humanität, der von dem All-Star-Solisten-Quartett, das 1963/64 von Christa Ludwig angeführt wurde, die Krone aufgesetzt wird. Rund 30 Jahre später brachte Gardiner mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique die erste Aufnahme in gut informierter, historischer Aufführungspraxis heraus – mit unter anderem Ventil- und Kontrabassposaunen, mit 13-klappigen Klarinetten und einer schon von Verdi verlangten, aufgestockten Kontrabassgruppe. Angesichts dieser musikhistorischen Maßnahmen wurde das Requiem aber nicht etwa ausgedörrt, vielmehr ist man bei diesem geschärften Blickwinkel noch näher an Verdis facettenreicher Pianissimo-Kultur und kammermusikalischer Akkuratesse dran (Ähnliches gelang 2004 auch Nikolaus Harnoncourt). Wer davor oder danach den quälend langen und von zen-buddhistischer Spiritualität durchgekneteten Livemitschnitt von Sergiu Celibidache aus der Münchner Philharmonie hört (1993), der meint, einem komplett anderen Werk zu begegnen. Die Ohren und Gedankengänge können hingegen schnell wieder durchgepustet werden: etwa von Georg Soltis 1977er Aufnahme mit vier sagenhaften Einzelkämpfern (Joan Sutherland, Marilyn Horne, Luciano Pavarotti und Martti Talvela). Oder von Claudio Abbados Livemitschnitt von 2001, bei dem die mikro- und makrokosmischen Verdi-Turbulenzen ohne den entsprechenden Opernzug wohl nicht nachhallen und nachbeben würden.
Coviello/Note 1
RCA/Sony Music
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EMI
Naxos
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Decca/Universal
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EMI
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