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Im Internet bleibt nichts verborgen. Da kursiert doch tatsächlich ein kleines, nicht gerade brillantes Farbfilmchen, in dem ein schmaler Knirps voll in seinem Element ist. Im weißen Hemd mit schwarzer Fliege steht er da geschniegelt vor seiner Klasse – und dirigiert mit ganzem Körpereinsatz und Emphase eine Schallplattenaufnahme von Ravels »Bolero«. Um die zehn Jahre muss Yannick Nézet-Séguin da gewesen sein. Sein damaliger Wunsch, Dirigent zu werden, scheint ihm heute »vergleichbar dem, Feuerwehrmann zu werden. Es war eine seltsame Idee.« Dass sein Berufswunsch nie infrage gestellt worden sei, hänge damit zusammen, dass beide Eltern Pädagogen gewesen sind. »Sie haben sich gehütet, ein entmutigendes Wort laut werden zu lassen.«
Rund 25 Jahre später ist Nézet-Séguin kaum wiederzuerkennen. Mit seiner leicht gedrungenen, aber kraftvoll wirkenden Statur sowie den leicht hochgegelten Haaren könnte er glatt als erwachsengewordenes Ex-Mitglied einer Boygroup durchgehen. Ansonsten aber ist er seinem breitarmigen, nicht unbedingt der reinen Lehre entsprechenden Dirigierstil treu geblieben. Was das Publikum wie auch die Kritiker anscheinend nicht zu stören scheint. Denn welche Konzertrückblicke und Opernvorschauen man momentan auch aufschlägt – überall schlägt einem der Name »Yannick Nézet-Séguin« entgegen. Nach seinem Debüt 2008 bei den Salzburger Festspielen mit Gounods »Roméo et Juliette« und Rolando Villazón hat er gerade seinen Antrittsbesuch bei der Met hinter sich. Mit Elína Garancˇa als Carmen. Und 2010 stellt er sich erstmals den Wiener und Berliner Philharmonikern sowie dem Mailänder Scala-Publikum. Dass er nebenbei auch Valéry Gergiev bei den Rotterdamer Philharmonikern beerbt hat und erster Gastdirigent des London Philharmonic Orchestra ist, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Bei einem, der eigentlich nichts Glamouröses verkörpert, sondern eine alte Kapellmeister- Weisheit vertritt: »Dirigenten sind nur die Gepäckträger der Komponisten. Weshalb man sich nicht zu wichtig nehmen sollte.« Diese Einstellung hat Yannick Nézet-Séguin von einem Maestro gelernt, der für ihn bis heute die künstlerische Vaterfigur geblieben ist. 1997 begegnete er Carlo Maria Giulini. Der nahm den 22-Jährigen unter seine Fittiche, reiste mit ihm nach Paris und Madrid, um ihm dort das entscheidende Einmaleins eines Opern- und Konzertdirigenten beizubringen. Und Yannick Nézet-Séguin, der 1975 in Montréal geboren wurde, schien derart an Giulinis Lippen gehangen zu haben, dass er gleich auch noch von dessen Brucknerliebe infiziert wurde. Mit 26 Jahren dirigierte Nézet-Séguin in Montréal gleich mit Bruckners Neunter ein Paradestück Giulinis. Dass er nun ganz zu sich selbst gefunden hat, beweist er auf seiner neuesten CD mit seinen Rotterdamern. Mit eiserner Perfektion und knisternder Spannung dirigiert er dort Werke jenes Franzosen, mit dem vor einem Vierteljahrhundert alles begann: Maurice Ravel.
Guido Fischer, 15.02.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2010
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