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Hotel Imperial in Wien. Rilke und Richard Wagner haben Gedenktafeln an der Fassade der Nobelherberge am Ring. An diesem Vormittag springt die Französin Patricia Petibon in Suite Nr. 104 jubelnd, feixend und außer Rand und Band über Tisch und Bänke. Sie kann es kaum fassen. In dieser mit Himmelbett, Nebeneingang, DVD-Player und frischen Lilien ausgestatteten Zimmerflucht haben bestimmt schon mal Fred Astaire oder die Begum Aga Khan genächtigt. Wahnsinn! In der Halle unten ist uns beim Reinkommen Pierre Boulez begegnet. Die rothaarige Koloratursoubrette soll durch einige Interviews den Verkauf ihrer neuen CD auf Touren bringen. Über Nacht bleiben wird sie nicht, sondern dürfte zurückfahren nach Paris. Ohnehin scheint sie eher einer Märchen- als einer Hotelwelt entsprungen. Die lockigen Haare zwirbelt sie gerne zu zwei spitz-diagonal vom Kopf abstehenden Tüten zusammen. Sie wirkt wie ein burleskes Fabelwesen aus dem »Sommernachtstraum«. Noch genauer: Patricia Petibon erweckt den Eindruck eines durchgedrehten kleinen Mädchens aus einer französischen Variante des »Wizard of Oz«. Eine zwitschernd in Stratosphären aufgestiegene Judy Garland. Oder einfacher: eine funny Femme fatale.
Dabei will sie neuerdings ernster werden. Mit Koloratur-Raketen wie Zerbinetta (»Ariadne auf Naxos«) oder der Königin der Nacht soll es, wie auch die extremen Gegensätze ihrer neuen CD zeigen, zunächst vorbei sein. In Salzburg steht sie dieses Jahr als »Lulu« auf der Riesenbühne des Festspielhauses. Sie träumt von Lucia di Lammermoor, Manon und »La Traviata«. Und bringt dafür nicht nur die richtige Stimme, sondern vor allem die richtige emotionale Gewichtung mit. Der quirlige Pumuckl versteckt unter der heiteren Oberfläche Anflüge von Schwermut, Selbstzweifeln und rabenschwarzer Tristesse. »Erst wenn man ernst wird, gewinnt man die Fähigkeit, komisch zu wirken«, sinniert sie. Und: »Wer komisch scheint, bei dem kann es jederzeit tragisch umkippen.«
Auf ihrer neuesten CD kehrt Patricia Petibon zu ihren barocken Anfängen zurück. Den Cocktail aus berühmten Händel-Arien (»Alcina«, »Rinaldo «, »Ariodante«) und Trouvaillen von Nicola Porpora, Alessandro Scarlatti und Antonio Sartorio mischt die inzwischen 40-Jährige explosiv. Da knallen die Stimmkorken, da wird der virtuose Überflug gekonnt mit Tiefsinn und Gefühlsfinsternissen geerdet. Technisch und emotional scheint Petibon sich wieder gefangen zu haben, nachdem man zwischenzeitlich nicht so recht wusste, wohin ihre Reise geht. Die Schülerin von Rachel Yakar wurde ursprünglich von William Christie entdeckt. Ihn bezeichnet Petibon geradezu als eine Art »Vater«, der sie aus dem Soubrettenkerker befreite und auf die französische Barockschiene setzte. Im Pariser Palais Garnier konnte man sie in »Les Indes galantes« als koloratöse Faschingsfee bewundern und unter Gardiner in Glucks »Orpheus und Eudydike« (auf DVD). Hinreißend auch ihre amerikanischen Songs unter dem Titel »Fast Cats and Mysterious Cows« (»Schnelle Katzen und mysteriöse Kühe«, mit Knabenchor!). Dass Patricia Petibon eine Bombe ist, war allen klar, die Gelegenheit hatten, sie live oder auf den (bei uns bisher nicht sehr prominent beworbenen) CDs zu hören. Eine der interessantesten Sängerinnen der Gegenwart. Mit dem Repertoire ihres neuen Albums dringt sie unverfroren in das Territorium von Cecilia Bartoli ein. Um ihr die Krone zu entreißen? Das zuzugeben kann man von dem grazilen Persönchen mit Himmelfahrtsnase nicht erwarten. Fest steht, dass mit ihr ein Tonfall in den Gesang zurückkehrt, der in der Klassik überhaupt sträflich vernachlässigt wird: das zierlich vokale Tänzeln, ein virtuoses Antichambrieren und der hell blinzelnde Glöckchenton französischen Kunstgesangs. Patricia Petibon bringt sozusagen die Kunst des Errötens in den Gesang zurück. Très charmant!
Robert Fraunholzer, RONDO Ausgabe 3 / 2010
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