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Sie geben ein lustiges Bild ab, diese drei Personen, die da im Berliner Haus des Rundfunks um die Partitur von Arvo Pärts »Cantique des degrés« stehen: Es sind der smarte Dirigent Kristjan Järvi, der bald 75-jährige Komponist mit dem würdigen Bart und den kindlich unbeholfenen Bewegungen und seine wachsame Frau und Managerin Nora. Gerade hat der Tontechniker den frisch eingespielten Take abgefahren und nun beginnen die Hände der drei, gleichzeitig durch die Notenzeilen zu fahren. Natürlich könnte so viel gemeinsames Engagement für das Werk auch schiefgehen – wenn man nicht schon so lange persönlich miteinander vertraut wäre. Längst vor ihrer Emigration aus Estland im Jahre 1980 waren die Pärts mit Kristjans Vater Neeme Järvi befreundet. Neeme Järvi, der ebenfalls 1980 emigrierte, ist sogar Widmungsträger von Pärts 3. Sinfonie: des einzigen Werks, das der Komponist in den Jahren seiner Abkehr vom Serialismus und seiner Hinwendung zu einem neo-gregorianischen »Tintinnabuli«-Stil autorisierte. Neu interpretiert von Kristjan Järvi ist das Stück ebenso Teil der neuen CD wie das Stabat Mater von 1985, das Pärt vor zwei Jahren auf Kristjans Wunsch für Chor und Orchester umarbeitete. Schon als Kind sei Kristjan, der jüngste Spross der Musikerfamilie, sehr energetisch gewesen, erzählt uns Nora Pärt: »Warum darf der alles, was wir nicht durften?«, hätten seine älteren Geschwister Paavo und Maarika damals gefragt. Heute ist es jedoch an Arvo Pärt, zu entscheiden, was Kristjan darf. Denn mit der mystisch- meditativen Grundhaltung, die man Pärts Musik gerne zuschreibt, hat Järvis hymnische, ja fast überschwängliche Lesart der »Cantiques« wenig zu tun. Ihn begeistere das Stück, weil Pärt hier eine andere Seite von sich zeige, aus sich herausgehe, wird er später sagen. Und er wird auch zugeben, dass man sich im Laufe der Aufnahmen erst habe finden müssen. Denn Pärt gehört nicht zu den Komponisten, die ihren Interpreten völlig freie Hand lassen – zumal da auch noch die charmante, aber strenge Instanz seiner Frau Nora ist. Es sei durchaus schon vorgekommen, dass man bei einer Aufnahme ein Veto eingelegt habe, gibt sie zu. Der scheue und extrem wortkarge Komponist nickt – und lässt sich, vom Klang des Wortes »Veto« inspiriert, dann doch überraschend zu einem Bonmot hinreißen: »Ein Veto ist aber immer auch ein Wehtun.«
Ob Järvis Interpretation nah an seinen eigenen Intentionen ist oder ob sie ihn überrascht, das verrät Pärt uns leider nicht. Wir können ihn nur beobachten, wie es den gedankenverloren und mit leicht geöffnetem Mund Lauschenden immer näher zum Fenster des Studios zieht, hinter dem Järvi mit tänzerischen Gesten und begeisterter Mimik vor Chor und Orchester zu sehen ist. »Schön«, sagt er, eine intensiv ausgedeutete Reibung genießend. Und bei einem »Amen«, das in überraschendem Piano gehalten ist, entfahren ihm sogar jene zwei dunkel gefärbten Silben, mit denen die lakonischen Finnen und Esten echte Anerkennung auszudrücken pflegen: »Aha!«
Carsten Niemann, 11.01.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2010
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