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Als Fürst Carlo Gesualdo von Venosa im Jahr 1590 seine Frau und deren Liebhaber umbrachte, wurde er dafür nicht belangt: Als „Ehrenmord“ blieb die Tat straffrei. Damit könnte man die Spurensicherung abschließen – hätte der Fürst nicht auch ein bedeutendes musikalisches Werk hinterlassen. Und das scheint mit seiner Expressivität und seinen scheinbar gegen alle Regeln verstoßenden Harmonien dafür zu sprechen, dass hier ein ungezügelter Individualist mit psychopathischen Zügen handelte. Es ist diese Sicht, die in den letzten Jahrzehnten den Blick auf Person und Werk Gesualdos bestimmte – und verzerrte.
Ein sehr viel differenzierteres Bild zeichnen zwei wichtige Neueinspielungen, die aus Anlass des 400. Todestags Gesualdos erscheinen. Die erste stammt von der Compagnia del Madrigale, die das sechste und letzte erhaltene Madrigalbuch des Komponisten eingespielt hat. Die Gründungsmitglieder sind aus so bedeutenden Ensembles wie La Venexiana und Concerto Italiano bekannt; was die Compagnia del Madrigale von diesen Formationen unterscheidet, ist, dass sie ohne Dirigenten singt und sich dezidierter dem Genre des Madrigals verschrieben hat – einem noch längst nicht erschlossenen riesigen Fundus hoch artifizieller Vokalmusik, aus dem Gesualdos Werk als eine wichtige Eisbergspitze herausragt. Den neuen Ansatz, den die Spezialisten mit ihrer Einspielung verfolgen, erkennt man schon beim ersten Hören. Gesualdo notierte die meisten Stücke nämlich mit ungewöhnlich platzierten Notenschlüsseln, sogenannten Chiavetten, erläutert Gründungsmitglied Giuseppe Maletto. Es handelt sich um eine Notation, die eine einfache Transposition der Musik in tiefere Lagen ermöglicht. Maletto und sein Ensemble nahmen diese Möglichkeit wahr – und entdeckten ein völlig neues Klangbild. Denn singt man Gesualdos Musik untransponiert, gelangen die Stimmen schnell an Grenzen, in denen eine Differenzierung kaum möglich ist. Musiker, die gewohnt sind, den Komponisten als Vorläufer der neuen Musik zu sehen, störte das lange nicht. Der Madrigal- Spezialist Maletto hingegen weiß die Vorteile zu schätzen, die das Musizieren durch die Brille der Chiavetten erlaubt: „Es gibt uns die Möglichkeit, expressiver zu sein, denn es führt uns in einen Bereich der Stimme, der uns erlaubt, sprechend zu musizieren und den Worten eine größere Kraft zu geben.“
Eine kleine Sensation ist auch die Ersteinspielung, die der Dirigent und Komponist James Wood zusammen mit dem Vocalconsort Berlin präsentiert: Es handelt sich um die erste Rekonstruktion des zweiten Buches von Gesualdos „Sacrae cantiones“, das ein Drittel der gesamten Kirchenmusik des Komponisten enthält. Zwei Stimmbücher der 1603 erschienenen, 6- bis 7-stimmigen Werksammlung sind allerdings verschollen. Sie zu rekonstruieren, galt lange Zeit als aussichtslos – denn wie ließe sich der Geist eines regellosen Eigenbrötlers fassen? James Wood ließ sich nicht davon abschrecken – wobei er sich aber nicht allein auf seine Inspiration verließ, sondern zunächst eine eingehende Analyse von Gesualdos Musik anfertigte. In drei Jahren Arbeit deklinierte Wood jedes Element von Gesualdos Stil durch, sei es Kontrapunkt, Melodie, Text, Harmonie oder Rhythmus. Mit überraschenden Ergebnissen: „In der Vergangenheit haben viele Leute geglaubt, dass Gesualdo ganz wild und ohne Disziplin komponiert hat. Doch die Erfahrung, die ich nach dieser Analyse gewonnen habe, ist, dass genau das Gegenteil der Fall ist: dass er unheimlich streng und diszipliniert war.“ So fand Wood etwa heraus, dass Gesualdo jeden Textbaustein nur maximal drei Mal wiederholte. Dutzende von solchen Einzelregeln engten Woods Lösungsmöglichkeiten für die Rekonstruktion ein, so dass sich die fehlenden Stimmen oft passgenau wie bei einem extrem komplexen Puzzle einfügen ließen – und doch ein lebendiges Bild ergaben: „Das Geniale an dieser Musik ist, wie unglaublich menschlich sie klingt – trotz dieser sehr strengen Technik.“ Für Wood ist Gesualdo daher am ehesten mit Bach zu vergleichen: „Er stellt den Kulminationspunkt einer Bewegung dar. Dieser Stil hatte solch einen Höhepunkt erreicht, dass man nicht weiter gehen konnte.“
Glossa/Note 1
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Für heutige Ohren hören sich manche Passagen in Gesualdos Musik erstaunlich modern an. Ein Grund dafür liegt in der Begeisterung des Fürsten für die „chromatische Bewegung“, die besonders in Ferrara blühte. Ihre Anhänger wollten aber nicht mit der Tradition brechen, sondern versuchten – ganz im Geist des Renaissance –, die antiken griechischen Tongeschlechter mit allen ihren ursprünglichen Zwischentönen bzw. Farben (chroma = griech.: Farbe) neu zu beleben. Ein Mittel dazu war die Aufteilung der Tonleiter in mindestens 19 statt der üblichen 12 Tonschritte. Es wurden sogar chromatische Cembali mit zusätzlichen Tasten gebaut, von denen Gesualdo eines besaß.
Carsten Niemann, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 1 / 2013
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