Am 16. Oktober 1990 starb 75-jährig der kubanische Pianist Jorge Bolet. Decca widmet ihm diese 4-CD-Box mit einem Querschnitt durch jene Aufnahmen aus den 80er Jahren, die ihn erst richtig berühmt machten: Bolet, der u. a. bei Leopold Godowskys Schwiegersohn David Saperton studiert hatte, blieb nämlich bis zum Beginn seines siebten Lebensjahrzehnts ein Außenseiter. Wer ihn hier hört, kann sich das kaum vorstellen: Seine Technik ist makellos, sein Ton ist farblich höchst variabel und stets betörend schön, seine Interpretationen sind geprägt von einem souverän sicheren und selbstverständlichen Zugriff auf die klanglichen Möglichkeiten des Instruments einerseits und auf das Ausdrucksspektrum der Musik andererseits. Mit anderen Worten: Wer etwa meint, Rachmaninows drittes Klavierkonzert schon sehr gut zu kennen, weil er zehn oder fünfzehn der besten Darbietungen dieses Werks im heimischen CD-Schrank hat, der wird staunend erleben, dass ihm Bolet noch einmal ganz neue Perspektiven dieser Musik eröffnen kann. Außer Rachmaninow präsentiert der Grandseigneur des virtuosen Klavierspiels noch Brahms, Chopin, Godowsky und natürlich Franz Liszt, für dessen Musik er sich lebenslang einsetzte.
Noch zu Lebzeiten – und in noch größerem Umfang – ehrt dasselbe Label den Rumänen Radu Lupu; Anlass für die 10-CD-Box ist vermutlich sein 65. Geburtstag am 30. November. 1993 hat sich der scheue und skrupulöse Künstler zuletzt im Studio sehen lassen und ein Schumann-Programm (Kinderszenen, Humoreske, Kreisleriana) eingespielt. Dieses Recital, das auch am Ende der vorliegenden Sammlung steht, ist ein wunderbar inniges Kleinod der Schumann- Interpretationsgeschichte, geprägt von jener stupenden Schlichtheit, die ein Höchstmaß an Können als Ausgangsbasis erfordert. Ob Radu Lupu noch einmal ein Aufnahmestudio betreten wird, weiß niemand; vorerst können wir uns nur an jenen Beethoven-, Brahms- und Schubert-Interpretationen erfreuen, die er ab 1970 vor laufenden Mikrofonen zu präsentieren bereit war. Sie sind außergewöhnlich dicht und konzentriert, zudem stets sehr persönlich und originell.
Nur noch Geschichte ist leider die Streicherformation The Raphael Ensemble: Vor drei oder vier Jahren trennte sich die 1982 von der Jacqueline-du- Pré-Schülerin Andrea Hess gegründete erfolgreiche Gruppe, die sich vor allem der romantischen Quintett- und Sextett- Literatur widmete. Was bleibt, ist eine Handvoll Aufnahmen beim britischen Label Hyperion. Die 1995 entstandene Einspielung der Brahms- Quintette op. 88 und op. 111 wurde vom BBC Music Magazine unter die hundert besten Schallplatten des 20. Jahrhunderts gerechnet. Und in der Tat: Wir hören eine gediegene Interpretation von zeitloser Schönheit – leidenschaftlich kraftvoll, elegant, bisweilen schmeichelnd zart. Dabei niemals im Übermaß extrovertiert, sondern sehr verinnerlicht, wohl hochromantisch, aber nicht oberflächlich effekthascherisch – so mag man sich vielleicht nicht nur die Musik als solche, sondern ein wenig auch die Komponistenpersönlichkeit dahinter vorstellen.
Am 11. Juli 2010 wurde der russisch-schwedische Tenor Nicolai Gedda 85 Jahre alt. Ihm war eine ausgesprochen lange Karriere beschieden: Seine letzten Auftritte sind noch nicht allzu lang her; vernünftige Terminplanung und eine dezidierte Auseinandersetzung mit Gesangstechnik machten offenbar möglich, was so viele seiner Kollegen nicht zuwege brachten. Dennoch sind auch bei qualitativ recht stabilen Sängern die frühen Aufnahmen meistens ein besonderer Genuss, denn die volle Blüte der Jugend hat zumeist etwas Einzigartiges, sofern das technische Können schon ausgereift ist. Und so erweist sich auch dieser Salzburger Liederabend aus dem Jahre 1959 – Gedda war gerade 34 geworden – als besondere Perle. Wenig bekannte italienische und französische Lieder sind einer der Schwerpunkte des Programms. Mit Respighi, Franck und Fauré schlägt Gedda nicht nur das Salzburger Publikum, sondern auch den CD-Hörer in den Bann, denn die Delikatesse der nuancenreichen Ausgestaltung ist überwältigend. Nicht minder begeisternd die russischen Lieder des zweiten Teils bis hin zur ersten von insgesamt vier Zugaben – Rachmaninows »Lied des jungen Zigeuners« aus »Aleko« mit abschließendem triumphalen hohen B, das Nicolai Gedda immer und immer wieder gesungen hat.
Michael Wersin, 04.01.2014, RONDO Ausgabe 6 / 2010
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