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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Kreuzchor, Kantor Roderich Keile (c) Matthias Krüger, Berlin

Pasticcio

Zu Kreuze gekrochen

Sobald Altkanzler Helmut Schmidt sich mal wieder zu Wort meldet, lauscht ihm die Nation andächtig. So auch vor nicht langer Zeit, als er China vor der penetranten Aufforderung seitens des Westens in Schutz nahm, sich doch endlich einmal mit der Aufklärung zur beschäftigen. Das Riesenreich, so Schmidt, braucht solche Belehrungen nicht. Schließlich ist es das friedlichste Land der Welt – und damit wohl auch ein Vorbild für die Weltstaatengemeinschaft. Eine Kernidee der Aufklärung ist die Gedankenfreiheit. Und als ob sich nun der Dresdner Kreuzchor im Vorfeld seiner allerersten China-Tournee an Schmidts Worte erinnert hätte, strich man einfach mal ein deutsches Freiheitslied vom Programm, das die Chinesen eben nur als unnötige Belehrung aufgefasst hätten. „Und sperrt man mich ein - im finsteren Kerker. Das alles sind rein vergebliche Werke. Denn meine Gedanken - zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei.“ – so heißt es in der Version nach Hoffmann von Fallersleben in „Die Gedanken sind frei“. Genau auf dieses Lied aus dem 18. Jahrhundert verzichtete der traditionsreiche Kreuzchor, da es laut Chorleiter Peter Kopp sowieso nicht durch die Zensur gekommen wäre. Mit diesem wachsweichen Rückgrat stieg man in den Flieger. Und wen wundert´s – die sechs Konzerte gingen nicht nur reibungslos über die Bühne. Der Chor wurde durchweg gefeiert.
Dass es mit den freien Gedanken in China so eine Sache ist, bekam kurz danach immerhin das Dortmunder Ballett unmittelbar zu spüren. Schon nach der Premiere des Stücks „Der Traum der Roten Kammer“, in dem der Dortmunder Ballettchef Xin Peng Wang besonders die für Intellektuelle und Künstler brutale Kulturrevolution darstellte, stürmten in Hongkong Politschergen die Hinterbühne und sorgten für Tumulte. Bei der zweiten Aufführung waren dann plötzlich die anstößigen Szenen nicht mehr zu sehen – aus „technischen Gründen“, wie die Zensurbehörde mitteilte. Aber auch dazu wäre wohl Schmidts einziger Kommentar, dass im roten Reich doch alles im grünen Bereich ist.

Guido Fischer



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