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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Sinfonieorchester Basel (c) Pia Clodi, Peaches & Mint

Sinfonieorchester Basel

Brillant und unwiderstehlich

Gemeinsam mit Ivor Bolton bricht das Orchester eine Lanze für Saint-Saëns’ Sinfonische Dichtungen.

„Es ist eine absolut einzigartige Virtuosität der Orchesterbehandlung“, begeistert sich Michael Stegemann. „Ein ganz eigener, sehr transparenter Stil mit einer Art von irisierendem Klang, die man sonst nicht findet – seinerzeit war das wie aus einer anderen Dimension.“ Und Ivor Bolton fügt noch hinzu: „Für die Hörer sind diese Werke ungemein lebendig, brillant und einprägsam und von einer unwiderstehlichen Virtuosität.“
Wer den deutschen Musikwissenschaftler und den britischen Dirigenten hier gleichermaßen ins Schwärmen bringt? Nein, es ist weder einer der hiesigen Klassikgötter noch deren sattsam bekannte kompositorische Geniestreiche: Der französische Komponist Camille Saint-Saëns und seine sinfonischen Dichtungen haben die beiden erfahrenen Genrekenner derart entflammen lassen. Dabei befasste sich der Romantiker gerade einmal sechs Jahre lang zwischen Februar 1871 und Januar 1877 mit dieser Gattung und schuf in der Zeit lediglich vier eher kurze Werke dieses Typs. Doch deren Ergebnisse haben Bolton derart fasziniert, dass der 64-Jährige nun mit seinem Sinfonieorchester Basel die „Symphonies fantastiques“ kurz nach deren Wiederveröffentlichung im Rahmen der Neuen Kritischen Werkausgabe Saint-Saëns’ als Album eingespielt hat. Angefangen von dessen ersten beiden, auf antiken mythologischen Stoffen basierenden „Le rouet d’Omphale“ und „Phaéton“ über den düster-eindrücklichen „Danse macabre“ bis hin zu einem weiteren antiken Thema mit „La jeunesse d’Hercule“. Und zweifellos dürften die Kritiken diesmal besser ausfallen als nach ihren Uraufführungen vor 150 Jahren …

Kopfkino: Lebendigkeit und Nervenkitzel

Damals nämlich tobte ein heftiger Kulturkampf in der mitteleuropäischen Musikszene zwischen Traditionalisten und Modernen, sagt Stegemann. „Die Sinfonie war nach Beethoven an ihre Grenze geraten und man wusste nicht, wie diese Form weiterzuführen und zu entwickeln war.“ Initialzündung für diese Zeitenwende war die Uraufführung von Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ am 5. Dezember 1830 in Paris gewesen, in deren Folge Franz Liszt ganz bewusst auf eine „Erneuerung der Musik durch ihre innigere Verknüpfung mit der Dichtkunst“ gesetzt habe: Seine erste sinfonische Dichtung, die so genannte „Bergsymphonie“, griff zwei Jahrzehnte später dann auf Zeilen Victor Hugos zurück – elf weitere Werke dieses Genres folgten bis 1861. Und riefen heftige Kritiken der Konservativen hervor, als deren Wortführer der berühmte Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick schon früh diese Stücke Liszts zur „Un-Musik“ erklärte, bei der „die selbständige Bedeutung der Musik abdanken, und diese dem Hörer nur mehr als gestaltentreibendes Mittel eingeben“ würde.
Verrisse, die indes Saint-Saëns Interesse für das neue Genre und seine Begeisterung für den deutschen Kollegen ebenso wenig dämpfen konnten wie die nationalistische Komponente, die spätestens mit dem verlorenen Krieg 1870/71 seiner Landesleute auch in der Kultur neu aufflammte: „Die symphonische Dichtung, die Liszt erfunden hat, ist eine neue Gussform, die in der Geschichte der Kunst von epochaler Bedeutung sein wird“, schrieb er – unter Pseudonym – 1872 in der Fachzeitschrift „La Renaissance littéraire et artistique“. Und auch im französischen Konzertpublikum vollzog sich seinerzeit ein überraschend schneller Stimmungswandel: „Nachdem es erstmal hieß ‚Was ist das denn?‘, war man schon bald fasziniert von den Effekten und den erlebten Reizen, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte“, erklärt Autor Stegemann. „Dieses ‚Kino im Kopf‘ hatte Lebendigkeit und Nervenkitzel.“
Daran wird auch die von dem Saint-Saëns-Experten Stegemann in Zusammenarbeit mit dem Bärenreiter-Verlag geplante wissenschaftlich-kritische Gesamtausgabe aller Instrumentalwerke nichts verändern: 325 Kompositionen in 39 Bänden, die bis 2040 erscheinen sollen – sieben Ausgaben sind bislang veröffentlicht worden, darunter auch die Sinfonischen Dichtungen. Abgesehen von zahlreichen Druckfehlern seien es dabei vor allem zwei dem Komponisten „extrem wichtige Elemente“, auf die in der Neuausgabe besonders geachtet worden sei: Zum einen die Rhythmik und Artikulation, die viele Taktwechsel mit sich bringen; zum anderen die Dynamik – „Saint-Saëns hat seine Partituren extrem sorgfältig korrigiert und unterscheidet ganz genau, welches Instrument gemeint ist oder ob es sich um ein Piano, Mezzopiano oder Pianissimo handelt“. Was bislang leider von vielen Dirigenten allzu oft in Bausch und Bogen genommen werde, bedauert der 57-Jährige: „Dabei haben diese dynamischen Angaben in dieser Unterscheidbarkeit ihre Bedeutung.“
Klingt nach einer sehr detaillierten Fleißarbeit – doch Praktiker Bolton ist begeistert vom Ergebnis: „Es war großartig, diese Werke auf Grundlage dieser äußerst gründlich recherchierten Ausgaben aufzunehmen“, schwärmt der Dirigent. „Bringen diese doch Klarheit in so viele Details – von Fragen der Dynamik und Artikulation bis hin zur Klärung seiner beabsichtigten Orchestrierung.“ Und könnten damit im Idealfall vielleicht sogar für eine Renaissance der sinfonischen Dichtungen jenseits Frankreichs sorgen: Schließlich gehörten diese um die vorletzte Jahrhundertwende schon einmal auch international zu den meistgespielten Orchesterwerken Saint-Saëns’.

Neu erschienen:


Camille Saint-Saëns

Sinfonische Dichtungen

Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton

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Christoph Forsthoff, 06.05.2023, Online-Artikel



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