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20. - 29.04.2024

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am 27.04.2024



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Kronjuwelen

Schätze für den Plattenschrank

Originalklang hält jung: Sir John Eliot Gardiner wird 80

Normalerweise können gerade Stardirigenten nur selten über ihren Schatten springen und Kollegen über den grünen Klee loben. Doch als Kölns ehemaliger GMD Semyon Bychkov einmal auf sein größtes Schumann-Erlebnis angesprochen wurde, nannte er wie aus der Pistole geschossen: Sir John Eliot Gardiners Gesamteinspielung sämtlicher Schumann-Sinfonien. „Für mich war es eine regelrechte Offenbarung“, so Bychkov. „Solche Aufnahmen zeigen uns, wie problematisch die etablierte Sicht auf dieses Repertoire ist.“ Tatsächlich war es dem englischen Originalklang-Verfechter Gardiner 1998 gelungen, das bis dahin konsequent romantische, auf wenig Konturen und noch weniger Farbnuancen setzende Schumann-Bild unter anderem auch über eine entschlackte Besetzung einer radikalen Generalrevision zu unterziehen. Gardiners Schumann hat seitdem bei zahlreichen Orchestern Schule gemacht.
Überhaupt hat vieles von dem, was Gardiner im Laufe der letzten 60 Jahre an Partituren ausgegraben und wiederentdeckt hat, seine Spuren hinterlassen. Nicht nur, was die aufführungspraktische Durchlüftung liebgewonnener Musik angeht. Gardiner hat immer wieder auch im großen Stil Komponisten in den Mittelpunkt gerückt, die selbst in ihren Geburtsländern lange eher stiefmütterlich behandelt wurden. Dazu gehören etwa Hector Berlioz und noch mehr Jean-Philippe Rameau. Schon während seiner Zeit als Musikdirektor der Oper in Lyon leistete Gardiner 1987 mit der Einspielung des Oratoriums „L’enfance du Christ“ seinen Beitrag zur Grundsteinlegung einer überfälligen Berlioz-Renaissance. 1982 brachte er dagegen die Weltersteinspielung der zu Lebzeiten von Rameau nie aufgeführten Oper „Les Boréades“ heraus, die er bereits 1975 in London konzertant uraufgeführt hatte. Und auch mit dieser Einspielung löste Gardiner, der das Rameau-Gen von seiner Lehrerin Nadia Boulanger eingepflanzt bekommen hatte, eine überfällig neue Begeisterung für den französischen Barockkomponisten aus.
Dass Gardiner sich zu solch einem Mann der Original-Pioniertat entwickeln konnte, lag aber nicht nur an seinem Näschen fürs Repertoire. Schon früh gründete er mit dem Monteverdi Choir und dem Monteverdi Orchestra zwei Ensembles, mit denen er seine Vorstellungen in idealer Weise umsetzen konnte. 1977 kamen dann die English Baroque Soloists hinzu. Und auch in Lyon stellte er mit dem Opernorchester einen Klangkörper zusammen, mit dem er vor allem das 18. und 19. Jahrhundert auf seine Raritäten hin schlagkräftig und erfolgreich abklopfte.
Jetzt gehören damit auch die Gesamteinspielungen von Jacques Offenbachs „Les brigands“ sowie der lyrischen Komödie „Fortunio“ von André Messager zu den vielen Highlights einer CD-Box, mit der Gardiner zum 80. Geburtstag am 20. April gratuliert wird. Versammelt sind da sämtliche Aufnahmen, die Gardiner für das französische Erato-Label gemacht hat, der Bogen reicht von Bach-Motetten über viel Purcell und Händel und über Rameau und Gluck bis zu Ravel. Und auch Schuberts „Unvollendete“ mit dem damals fantastischen Orchester von Lyon macht deutlich, was Gardiner einmal meinte, als er feststellte: „Ich habe keine exklusive Liebe. Ich bin ein Pluralist.“

The Complete Erato Recordings

Sir John Eliot Gardiner

64 CDs, Erato/Warner

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Guido Fischer, 08.04.2023, RONDO Ausgabe 2 / 2023



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