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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Residenzschloss (c) Deborah Schmidt/hb&b

Musikstadt

Bad Arolsen

Ins „Versailles Nordhessens“ locken seit 36 Jahren barocke Festspiele. Für 2023 verspricht die flötende Chefin Dorothee Oberlinger himmlische wie höllische Klangfreuden.

Wo gibt es denn so was bei einem deutschen Klassik-Festival? Es wird eröffnet mit einem Platzkonzert der Garde-Grenadiere und des Parforcebläsercorps, die in historischen Uniformen in den Schlosshof einmarschieren und Märsche, Hymnen, aber auch Popsongs schmettern, bis selbst die üppigen Rhododendrenblüten jenseits des schmiedeeisernen Gittertors wackeln. Dann ist Festakt unter farbsatt fetten Göttinnen in Öl und gipsernbleichem Stuckobst, das überreif von der Gartensaaldecke zu fallen droht.
Der langjährige Festival-Mann für alles, eine skurril-sympathische Mischung aus Hausmeister und guter Seele wird unter ehrlich anmutenden Lobpreisungen sämtlicher mit und ohne Amtsgoldketten erschienener Lokal- und Landkreispolitiker von der flötenden Festivalchefin in den Ruhestand verabschiedet. Schließlich erklingt noch die Landeshymne, aus voller Kehle wird gesungen: „Unter allen Landen deutscher Erde / Preis’ ich Waldeck, mein lieb’ Heimatland“. Dann schreitet man zur Atzung mit Mettbrötchen und Sekt im fürstlichen Staudengarten neben dem deutlich neumodischen Swimmingpool. Und nun kann endlich die Musik erklingen.
Das tut sie auch. Mit Vehemenz. Denn die gerne als „Hessisch-Sibirien“ belachte, trotzdem wunderschöne Region hinter Kassel hat mehr zu bieten als nur Märchenstraße in der Grimm-Heimat, grüne Wälder, Burgen und Fachwerkhäuser. Seit 36 Jahren lassen die Arolser Barock-Festspiele die höfische Welt des 18. Jahrhunderts wiederauferstehen, doch im Grunde reicht die musikalische Tradition in der fürstlich-waldeckischen Residenzstadt weit in die Geschichte zurück. Denn schon Graf Friedrich Anton Ulrich von Waldeck und Pyrmont, der die Stadt zur Residenz erhob, war ein Liebhaber der Musik, der es verstand, große Künstler seiner Zeit in seine Grafschaft zu locken.
Und so ist das barocke Residenzschloss Arolsen, auch „Versailles Nordhessens“ genannt und noch heute von der Fürstenfamilie bewohnt, obwohl es nicht in der Stadtmitte liegt, trotzdem Zentrum des Festivals. Das Schloss ist eine Dreiflügelanlage, an die sich ein etwas jüngerer englischer Garten anschließt, dessen zentrales landschaftsarchitektonisches Gestaltungselement ein ausgedehntes Rondell ist.
Wie bei vielen Schlössern war auch der Vorgängerbau der heutigen Residenz ein Kloster. An dessen Stelle errichtete Baumeister Julius Ludwig Rothweil d. Ä. nach Versailler Vorbild von 1710 bis 1728 für den Grafen (später: Fürsten) Friedrich Anton Ulrich von Waldeck und Pyrmont das neue Schloss. Nach Vollendung des Hauptbaus dauerten die Einrichtung, Ausstattung und Möblierung noch mehrere Jahrzehnte – denn man hatte sich total übernommen und war schlicht pleite. Ja mehr noch: Nach der Gründung des Deutschen Bundes war Waldeck so verschuldet, dass es die Beitragszahlungen zum Bund nicht aufbringen konnte. Der Landtag erzwang daher 1867 den Akzessionsvertrag mit Preußen, womit Waldeck einen erheblichen Teil seiner Eigenständigkeit verlor.
Das Ziel der barocken Idealidee war sogar einmal die planmäßige Ortsbebauung östlich des Schlosses, wie sie an dessen West-Seite gezielt verwirklicht wurde: Ursprünglich sollte es als Ergänzung zum westlichen Stadtgebiet zwischen Residenzschloss und Evangelischer Kirche spiegelverkehrt auch eine in Ost-Richtung orientierte, vorgegebene Bebauung geben. Damit wäre das Residenzschloss zur geografischen Stadtmitte geworden. Jedoch wurde dieser Teil nicht verwirklicht, und so ist de facto die Stadtkirche Arolsen die Ortsmitte. Doch auch der Torso hat seinen ganz speziellen Reiz.

Der Mammutbaum der Königin

Bad Arolsen, seit 1977 als Heilbad anerkannt, was sich seit 1997 auch im Ortsnamen widerspiegelt, war nach der Zeit als Residenzstadt von 1655 bis 1918 noch bis 1929 Hauptstadt des Freistaates Waldeck, bevor dieser seine Selbstständigkeit durch den Anschluss an Preußen verlor. Die Fürsten Waldeck hatten Mäzene wie stramme Nazis in ihren Reihen. Doch der für Arolsen weltgeschichtlich bedeutendste Tag war der 2. August 1858. Da wurde im Schloss Emma zu Waldeck und Pyrmont geboren. Sie heiratete am 7. Januar 1879 in der Schlosskapelle, daran erinnern heute noch die Glasfenster, König Wilhelm III. der Niederlande und wurde Regentin der Niederlande und damit Stammmutter des aktuellen niederländischen Königshauses.
Deshalb triff man hier das ganze Jahr über auffällig viele königstreue Holländer auf Ahnenforschung. Die bestaunen die Emma-Memorabilia bei der Schlossführung zwischen Barock und Neorokoko, aber auch die „Emma“-Wellingtonia, einen über 90 Jahre alten Mammutbaum, der bei einem einzige Gießvorgang 10 000 Liter Wasser schluckt. Selbst schlucken können die Touristen dann natürlich im „Café Emma“.
In einem Seitenflügel des Schlosses findet sich die Fürstlich Waldecksche Hofbibliothek mit Literatur zu nahezu allen im 17./18. Jahrhundert relevanten Wissensgebieten. Der Sammelschwerpunkt liegt bei Allgemeinem, Geografie, Geschichte, Literatur und Militaria. Die Bibliothek hat gegenwärtig einen Bestand von 35 000 Bänden, die auf fünf Räume verteilt sind. Darüber hinaus befinden sich 300 Landkarten, 500 Kupferstichwerke und mehrere tausend Einzelstiche im Bestand. Man beherbergt auch die im deutschen Sprachraum bedeutende Bibliothek des Privatsammlers Adolf Brehm.
Mit dem Christian Daniel Rauch-Museum im Marstall gegenüber dem Residenzschloss wurde 2002 zwischenzeitlich eine weitere kulturelle Einrichtung geschaffen, die eine überraschend reichhaltige Sammlung von Modellen und Skulpturen des hier in einem ebenfalls noch anschaubaren Haus eines Hofbeamten geborenen, später in Berlin berühmt gewordenen Bildhauers bietet. Die wurden bestens ergänzt durch eine Zusammenarbeit mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Selbstredend kann man bei den Barockfestspielen Flötengirlanden und Geigentonbögen auch hier zwischen Genien und Göttern, Büsten und Berühmtheiten hören.
Neben den Prunksälen und Salons mit Stuckarbeiten von Andrea Gallasini, Gemälden von Carlo Lodovico Castelli, Magnus de Quitter, Martin van Meytens, Johann Heinrich und Johann Friedrich August Tischbeins, Skulpturen von Rauch, Ernst Rietschel und Alexander Trippel sowie niederländischen Wandteppichen, Möbeln und Gemälden aus dem 18. Jahrhundert, findet sich im Schloss eine Ausstellung zur waldeckischen Militär­geschichte, ein städtisches Museum mit wechselnden Schauen sowie das Standesamt.
Seit 2009 werden die Arolser Barock-Festspiele von Meisterflötistin und Dirigentin Dorothee Oberlinger geleitet. Spielorte sind neben dem Steinernen Saal und der Schlosskapelle die Fürstliche Reitbahn, der historische Marstall und die evangelische Stadtkirche. Hochkarätige Künstler aus aller Welt geben auch in diesem Jahr wieder bekannte und unbekannte Schätze barocker Musik zu Gehör. Das musikalische Hauptprogramm wird durch Führungen durch die historische Residenzstadt ergänzt.
Die 37. Arolser Barock-Festspiele finden unter dem Motto „Himmel und Erde“ statt. Die Hoffnung auf ewiges himmlisches Leben, unsere irdische Vergänglichkeit und die Angst vor Höllenqualen finden aber nicht nur in den barocken Vanitassymbolen der Pfeife oder der Flamme der Kerze ihren Ausdruck, sondern auch in der Musik. Denn beides vergeht – wie Schall und Rauch. Und doch klingt die Musik der Vergangenheit bis heute fort …

www.bad-arolsen.de

Zwischen Hoffen und Bangen

Die vom 17. bis 21. Mai laufenden Arolser Barock-Festspiele werden mit dem Ensemble l’arte del mondo und Musik von „ewigem Atem“ eröffnet: Flötenmusik aus der Steinzeit trifft auf Flötenmusik des Barock wie des Heute. Das Ensemble MokkaBarock widmet sich mit der Sopranistin Johanna Rosa Falkinger den Jenseitsschrecken aus Dantes „Divina commedia“. Der Countertenor Alois Mühlbacher präsentiert sich hier erstmals, das Vokalensemble Voces Suaves beschäftigt sich mit Carissimis Oratorium „Jephte“. Das Hathor Consort hat die Sopranistin Núria Rial dabei. Das L’Orfeo Barockorchester unter der Leitung von Michi Gaigg musiziert mit Sopranistin Dorothee Mields himmlisch vergnügte Musik von Johann Sebastian Bach.

Regine Müller, 08.04.2023, RONDO Ausgabe 2 / 2023



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