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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Holger Talinski

François-Xavier Roth

Der Biss einer Garagen-Band

Der Dirigent und sein Originalklang-Ensemble Les Siècles feiern das zwanzigjährige Bestehen in Bestform.

Les Siècles spielt jedes Werk seines enorm breiten Repertoires auf historischen Instrumenten. Bereits drei Mal war das Orchester Gewinner des Preises der Deutschen Schallplattenkritik und wurde zwei Mal mit dem Edison Klassiek-Preis in den Niederlanden ausgezeichnet, zahlreiche weitere Ehrungen wie mehrere Diapasons d’or unterstreichen das Format des Orchesters. Das Geburtstagskonzert fand im Januar im Théâtre des Champs-Élysées statt, einer der zentralen Spielstätten des Klangkörpers. Auf dem Programm stand eine Mischung aus Bekanntem und fulminant dargebrachten Raritäten des französischen Repertoires, darunter Édouard Lalos „Namouna“-Suite, eine üppig orchestrierte Ballett-Musik von 1882, Albert Roussels „Bacchus et Ariane“-Suite und Jules Massenets „Scènes alsaciennes“.
Zum Interview treffen wir uns wenige Tage später in der Kölner Philharmonie, einer weiteren Wirkungsstätte von François-Xavier Roth, der hier Generalmusikdirektor und Chef des Gürzenich-Orchester Köln ist.

RONDO: Herr Roth, kehren wir zurück zu den Anfängen von Les Siècles: War das eine lang gehegte Idee von Ihnen?
François-Xavier Roth: Ja, es war ein Traum, seit ich Teenager war. Es gab aber lange große Unsicherheiten, wie man so etwas schaffen kann und natürlich gab es am Anfang auch kein Geld für das Orchester.

Gab es schon zu Beginn eine Vision vom Repertoire?
Der Traum war, ein Orchester zu gründen, das jede Epoche mit historischen Instrumenten und stilistisch kompetent spielen kann. Von Lully bis in die Gegenwart. Das gilt bis heute. Wenn ich die 20 Jahre betrachte, ragen besondere Projekte heraus, die ein größeres Echo als andere hatten, weil sie ganz neu waren. Wenn ich etwa an Strawinskis „Ballets russes“ denke und so manchen Berlioz. Oder gemischte Programme wie das mit Werken von Steve Reich und Bach, Rameau und Ravel oder Boulez und Debussy. Das Orchester hat sich Räume erobert, die andere Orchester noch nicht mit historischen Instrumenten besetzt hatten.

Was ist aus der Gründungsgeneration des Orchesters geworden?
Die ist fast noch da und darauf bin ich sehr stolz. Am Anfang waren wir ein sehr kleines Kammerorchester, der Kreis ist aber immer größer geworden mit der Zeit und mit größer besetzten Programmen.

Warum wollen Musiker dazugehören?
Schwer zu sagen, wenn man selbst dazu gehört. Am Anfang hatten wir noch nicht durchweg historische Instrumente, wir begriffen uns mehr als Labor. Und allmählich haben wir begonnen, die Streicher mit Darmsaiten spielen zu lassen, dann kamen authentische Holzblasinstrumente. Ich denke, das Orchester hat eine so starke Identität, weil wir am Anfang wirklich eine Garagen-Band waren. Wir wollten eine andere Art von Musizieren im Orchester erreichen.

Wie ist das Ensemble organisiert?
Es ist ein Orchester mit starker horizontaler Kommunikation. Wir sind das einzige Projektorchester in Frankreich, das ein System von festen Mitgliedern hat, also sind wir streng genommen gar kein Projektorchester. Und diese Gruppe überlegt sehr genau, wer neu aufgenommen wird.

Also wie ein deutsches Tariforchester, bei denen es Vorspiele gibt?
Bei uns gibt es keine Vorspiele, es geht sofort in den Dienst. Aber manchmal dauert es ein paar Jahre, bis jemand aufgenommen wird. Und manche spielen bei uns jahrelang, sind aber keine Mitglieder. So funktioniert die Gruppe.

Sind die Auftritte mit Les Siècles der Hauptberuf seiner Mitglieder?
Wir haben Musiker, die spielen ansonsten noch fest im Orchestre de Paris und auch viele Professoren. Die Mehrheit der Mitglieder aber sind Kurzzeit-Beschäftigte des Kulturbetriebs, die so genannten „intermittents du spectacle“. Das gibt es nur in Frankreich, sie kriegen für die Zeit im Jahr, in der sie nicht beschäftigt sind, Beihilfen vom Staat, um ihren freien Status halten zu können. Diese einmalige Konstruktion ist sehr wichtig für das Musikleben, deshalb haben wir auch so viele Projektorchester in Frankreich.

Das heißt, die meisten Musiker des Orchesters sind aus Frankreich?
Ja, wir haben zwar auch fünf oder sechs Musiker aus Großbritannien, aber die leben inzwischen auch in Frankreich.

Erklären Sie sich damit die Homogenität des Klangs, diesen besonderen Klangsinn des Orchesters? Was zugleich ein Klischee ist, der französische Sinn für Farben, die Valeurs?
Absolut, diese Kultur der Farben beim Musizieren ist sehr französisch und auch sehr Les Siècles. Was aber überhaupt nicht französisch ist, ist die kollektive Orchesterdisziplin. Ich bin sehr stolz darauf, denn es ist ein Orchester, bei dem das Publikum spürt, wie es atmet, als wäre es eine Person. Und diese Homogenität der Geste des Spielens ist besonders. Wobei das natürlich auch wieder ein Klischee ist, dass die Franzosen undiszipliniert sind und eingefleischte Individualisten …
Beim Konzert in Paris überraschte einmal mehr, welche unbekannten Schätze es im französischen Repertoire zu entdecken gibt, wenn sie denn so hinreißend musiziert werden.
Das ist ein großer Teil unserer Arbeit, wir haben viel investiert in die französische Musik der Romantik, die aus verschiedenen Gründen nicht so bekannt ist. Es ist eine große Freude, das zu spielen und auch für die Franzosen zu entdecken. Vieles war lange vergessen, was auch mit dieser Trauma-Figur Wagner zu tun hat. Es gibt in Frankreich immer diese grundsätzliche Frage: Wo steht die Musik?

Das meint: Welchen Rang hat sie unter den Künsten?
Ja, in Frankreich war Musik immer eine Art Kontrapunkt-Kunst, die entweder für Ballett, Theater oder die Kirche komponiert wurde. Aber Musik nur um ihrer selbst willen? Debussy hat nie eine Sinfonie geschrieben, auch Ravel nicht, Saint-Saëns hat es versucht. Aber diese pure, absolute Musik deutscher Tradition, das gab es nicht in Frankreich. Der Vorteil davon ist, dass so auch etwas glücken konnte wie Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“, das ist eben von Poesie inspirierte Musik, sehr sophisticated, sehr französisch.

Neu erschienen:

Igor Strawinski

Violinkonzert D-Dur, Kammermusik

Isabelle Faust, Les Siècles, François-Xavier Roth

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Regine Müller, 25.03.2023, RONDO Ausgabe 2 / 2023



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