home

N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Oper & Konzert · Festival

Ragnhild und Eldbjørg Hemsing (c) Nikolaj Lund

Hemsing Festival

Das Licht des Nordens

Seit zehn Jahren treffen sich auf diesem Festival nördlich von Oslo Musiker aus aller Welt – zu einem Musikwunder inmitten der strahlenden Winterlandschaft.

Schnee, wohin das Auge auch blickt: Schon seit Wochen hat die weiße Pracht die vielen kleinen bewaldeten Berge und kargen Hochebenen im Valdrestal in eine Winterwunderwelt der Stille verwandelt, in der an diesem Mittag die Sonne am strahlend blauen Himmel die kleinen Eiskristalle glitzern und funkeln lässt. Auf Langlaufskiern geht es über den zugefrorenen Langevatnet-See, berauscht von der schier unglaublichen Freiheit und Weite in der tief verschneiten Landschaft tanzen die Glücksgefühle und die Gedanken schweifen dahin … zur kurz zuvor erlebten „Kunst der Fuge“ in der kleinen Bergkirche von Aurdal. Das Goldmund Quartett hatte Bachs strenge Rechen- und Satzbauübung sehr warm und lebendig pulsieren und die Form gleichsam zum Beginn der Freiheit werden lassen – hier in der Einsamkeit der Natur klingt diese kreative Energie noch einmal auf ganz andere Weise nach.
„Wir möchten, dass unsere Gäste über das Konzert hinaus die Region hier entdecken“, sagt Ragnhild Hemsing. „Schließlich bietet Aurdal eine ganz andere Umgebung als sonst in der Konzertwelt.“ Vor zehn Jahren hat die norwegische Geigerin gemeinsam mit ihrer zwei Jahre jüngeren, ebenfalls die Violine spielenden Schwester Eldbjørg hier rund um die Stätten ihrer Kindheit das Hemsing-Festival gegründet, und seither kommen winters Musiker aus aller Welt für eine Woche im Februar in das 650-Seelen-Dorf 160 Kilometer nördlich von Oslo.
So wie heuer die Trondheim Soloists, Bratschist Adrien La Marca, Cellist Andreas Brantelid oder Martin Stadtfeld, der zwischen zwei Konzerten im Festivalbüro einen wärmenden Tee trinkt. „Natürlich versuche ich, nebenher auch die eine oder andere Schneewanderung zu unternehmen“, sagt der deutsche Pianist. „Schließlich geht es darum, dieses Festival wirklich als Gesamterlebnis zu empfinden – aber es braucht schon ein paar Tage, bis man einen Gang zurückgeschaltet und diese Besonderheit verstanden hat.“ Wo es sonst für die Stars des Klassik-Betriebs heißt: Ankommen, Einspielprobe, Konzert, Abendessen und am nächsten Morgen wieder Kofferpacken, liegt hier trotz manch furios-extrovertierter Interpretation wie im Finale von Edvard Griegs „Peer Gynt“-Schauspielmusik eine große Ruhe über dem Dorf und seiner zentralen Spielstätte, der fast 300 Jahren alten Holzkirche von Aurdal.

Nach Bach dem Gletscherflüsterer lauschen

„Es ist diese unglaubliche Erfahrung des winterlichen Friedens in dieser großen Weite“, beschreibt die 33-jährige Eldbjørg Hemsing das Glücksgefühl vieler Festivalbesucher – rund ein Drittel des Publikums stammt aus dem Valdres, ein weiteres Drittel sind Osloer, die hier ihr Ferienhaus haben und die übrigen kommen mittlerweile aus aller Welt. Kein Wunder: Wo sonst lässt sich jenseits des Musikerlebnisses schon mit dem Hundeschlitten durch schneebedeckte Landschaften fahren oder auf Skiern bis zur Konzertkirche?! Und wo sonst ist ein Perkussionist wie Terje Isungset zu erleben, der aus dem Eis der Gletscher und zugefrorener Seen seine Instrumente vom Xylofon bis zum Horn fertigt und hier in einer Jurte bei Minusgraden zu einem ebenso meditativen wie faszinierenden Eis-Konzert dieses Gletscherflüsterers lädt; oder der Joik-Gesang einer Marja Mortensson, die – aufgewachsen in einer Familie von Rentierhirten – bei ihren Auftritten die archaische Welt ihrer samischen Kultur geradezu beschwört, wenn die zarte Frau die gutturalen Laute und Töne mit ihren Händen zu formen scheint. Und selbst die norwegische Volksmusik, die Ragnhild auf ihrer neunsaitigen Hardangerfiedel ins Spiel bringt, gerät durch den ungewohnten, vielstimmigen Klang zu einem kleinen Schauspiel.
Dass die Hemsing-Schwestern einen Sinn für das Konzert als Gesamterlebnis haben, zeigen auch die abends von flackernden Kerzen im hohen Schnee beleuchteten Wege zur Dorfkirche oder jenem historischen Gasthof, in dem einst schon Grieg nächtigte, die musikalisch-kulinarischen Brückenschläge (s. Info-Kasten) oder speziellen Familienangebote. Wie überhaupt die Norweger die allerjüngsten Besucher erstaunlich entspannt nehmen, selbst wenn diese im Konzert dann irgendwann doch etwas unruhig werden …
… aber vielleicht ist es einfach auch die tiefenentspannte Stimmung dieser Festivaltage in einer verwunschenen Winter-Landschaft fern des Alltags, die Publikum wie Künstler gleichermaßen erfasst und einfach keine Missstimmungen zulässt. Oder um es mit Eldbjørgs Worten zu sagen: „Was uns einst die schönste Kindheit beschert hat, bringt uns heute die Freude, jeden Tag in glückliche Gesichter zu sehen.“

www.hemsingfestival.com

Rakfisk

Längst hat die Spezialität der bis zu anderthalb Jahren in Salzlake fermentierten Forelle aus dem Valdres Liebhaber in der ganzen Welt, mehr als 80 Prozent der internationalen Rakfisk-Produktion stammt aus dieser Region. Klar, dass die Hemsing-Schwestern in ihrer lokalen Verbundenheit da auch die örtliche Fischfarm Noraker Gård ins Programm eingebunden haben: Inzwischen in der 14. Generation werden in dem Familienbetrieb die Forellen aus den Teichen im Garten verarbeitet und fermentiert – und vom Festival-Publikum zwischen Grieg und Brahms beim Lunch-Konzert genossen. Und auch sonst sieht man in Norwegen die Kombination von Musik und Kulinarik deutlich entspannter als in Deutschland.

Christoph Forsthoff, 04.03.2023, Online-Artikel



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Musikstadt

Nürnberg

Das hätte jede Stadt gerne: Opernhauptperson sein! Nürnberg wurde von Richard Wagner in seinen […]
zum Artikel

Da Capo

Paris, Opéra Bastille

Ein Monument seiner selbst ist Arnold Schönbergs unvollendetes Opernoratorium „Moses und […]
zum Artikel

Pasticcio

Nachwuchspflege

In Dortmund wird bekanntlich die Fußballkultur (Stichwort: BVB) und die Bierbraukunst (Stichwort: […]
zum Artikel


Abo

Top