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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Matthias Heyde

RIAS Kammerchor

Kunstvoll, natürlich

Ja nicht biedermeierlich! Mit dem RIAS Kammerchor will dessen Leiter Justin Doyle die Zeitlosigkeit der „Liebeslieder-Walzer“ von Johannes Brahms entdecken.

Justin Doyle ist seit der Saison 2017/18 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des RIAS Kammerchor Berlin. 1975 in Lancaster geboren, war er zunächst Chorknabe an der Westminster Cathedral in London und später Choral Scholar am King’s College in Cambridge. Seinen Durchbruch als Dirigent brachte 2006 ein zweiter Preis bei der angesehenen Cadaqués Orchestra International Conducting Competition in Barcelona sowie ein Stipendium bei den BBC Singers, das den Beginn einer beständigen Zusammenarbeit markierte. Neben dem Chorrepertoire von der Renaissance bis zur Romantik hat Justin Doyle auch großes Interesse an aktueller Musik. Gemeinsam mit der Akademie für Alte Musik Berlin stellt er außerdem regelmäßig Werke Georg Friedrich Händels in den Mittelpunkt, darüber hinaus erweitert er kontinuierlich und epochenübergreifend das Repertoire des Chores, oder kehrt zu ihm zurück. Wie es jetzt die Neuaufnahme der beiden Bücher mit „Liebeslieder-Walzern“ von Johannes Brahms dokumentiert. Deren Texte von Georg Friedrich Daumer sind freie Nachdichtungen internationaler Volksdichtungen.

RONDO: Warum führt man diese scheinbar so biedermeierliche Musik heute noch auf?
Justin Doyle: Die „Zigeunerlieder“ von Brahms sind heikler, die mache ich heute nicht mehr. Aber bei den „Liebeslieder-Walzern“ sind doch die Gefühle, von denen hier erzählt wird, alle noch wahr und aktuell. Sie kommen in jedem Liebesfilm und in der zeitgenössischen Poesie vor. Es schöpft alles aus dem Volkstümlichen. Das ist so wichtig, sonst verlieren wir unsere Bindung an die früheren Generationen und damit auch ein Stück unserer Identität.

Und das Altmodische darin stört Sie gar nicht?
Es mag bisweilen etwas altmodisch klingen, aber das mag ich ganz besonders. Als Engländer habe ich Spaß, mich mit den Feinheiten der deutschen Sprache auseinanderzusetzen. Und weil nicht nur die Sprache, auch die Haltungen der Geschlechter zueinander etwas altmodisch ist, erscheint es mir besonders spannend, diese soziale Ordnung mit der von heute in Beziehung zu setzen. Das fanden auch meine Choristen, die sich sehr gefreut haben, diese Musik mal wieder singen zu dürfen. Zumal das alles gar nicht so harmonisch ist, wie es sich bisweilen vielleicht anhört.

Eigentlich werde die „Liebeslieder-Walzer“ für gewöhnlich von einem Gesangsquartett gesungen. Sie aber machen es mit Chor …
Das hat ja durchaus auch Tradition, denn Brahms gibt zwar die Stimmen vor, aber nicht die Besetzung. Und die beiden Werke gehören durchaus auch zur Chorliteratur. Sie tauchen eben nur nicht so oft auf wie sie es eigentlich sollten. Ein Solistenquartett muss sehr fein aufeinander abgestimmt sein, dass es sich nicht reibt, dass es harmonisiert, aber auf der anderen Seite auch nicht langweilt. Das ist gar nicht so einfach zu realisieren.

Und mit Chor ist es leichter?
Ja, denn ich kann innerhalb der einzelnen Stimmen deren Klangbalance ausgleichen, festlegen, wer mehr oder weniger hervortritt. Und 34 Sänger sind noch einigermaßen flexibel zu führen, da wird der Klang nicht fett, sondern bleibt schlank. Und trotzdem hat es eine ganz besondere Kraft, die dann wiederum den Ausdruck bestimmt. Es ist immer toll, mit Chorgrößen zu experimentieren. Wir machen hier also genau das Gegenteil von Joshua Rifkin, der wiederum fordert, man solle die Bach-Passionen nur mit Einzelstimmen musizieren.

Ist nicht gerade auch die Kürze mancher Brahms-Lieder eine Herausforderung?
Ja, man muss schnell präsent sein, eine Stimmung etablieren, denn vieles ist nur eine Skizze, ein Stimmungsaufheller. Das sorgt aber auch für Abwechslung, das ist bei diesem scheinbar ewiggleichen Taktmaß, Zweiviertel, Dreiviertel, Sechsachtel unbedingt notwendig. Deshalb haben wir aber auch ein paar ungarische Tänze als Sorbets dazwischengesetzt, damit unsere wunderbaren beiden Pianisten mal Auslauf haben und glänzen können. Und weil sie an diesen Stellen gut passen. Einerseits lockern sie das Geschehen auf, andererseits ist die Abfolge weniger dogmatisch und schematisch. Das gesellschaftliche Moment der Salonunterhaltung im 19. Jahrhundert spielt so wieder hinein.

Das Sie aber mit der chorischen Besetzung eher meiden …
… stimmt genau. Ich ziehe da ein Abstraktum ein. Diese Musik zwingt so zum Zuhören, der Eindruck von musikalischem Nebenbei, wie bei einer imaginären Tanzveranstaltung – George Balanchine hat das ja in seinem sehr schönen Ballett mit leider schrecklich kitschiger Ausstattung nachgestellt und erweitert – wird so vermieden. Wer hört, bleibt konzentriert dabei. Und weil da nicht vier Einzelstimmen tönen, wird die Musik gewichtiger und gewaltiger. Man muss freilich schauen, dass sie jetzt trägt, dass die Spannung erhalten bleibt.

Wie macht man das?
Ganz sicher nicht mit einer Überbetonung des Textes. Das ist der Tod! Es muss natürlich bleiben und das ist so unendlich schwer. Fragen Sie mal selbst eine so hervorragende Vereinigung wie den RIAS Kammerchor. Aber gerade deshalb habe ich diese Musik für den Chor ausgesucht. Weil sie, neben dem Genuss, hoffentlich auch für den Hörer, eine Herausforderung ist, an der wir wachsen können. Und wir haben sehr viel geübt dafür. Und sogar unsere Solisten bedacht, die immer wieder aus dem Gemeinschaftsklang hervortreten dürfen.

Wie oft taucht dieser Brahms im Chorkalender auf?
Zu selten. Weil man ihn wohlmöglich unterschätzt. Der RIAS Kammerchor hat vor langen Jahren einige Stücke draus mit Marcus Creed aufgeführt, seitdem nicht mehr – und aufgenommen hat er diese zwei Opusnummern ebenfalls noch nie. Also höchste Zeit!

Neu erschienen:

Brahms

„Liebeslieder-Walzer“ opp. 52a & 65a

RIAS Kammerchor, Justin Doyle

hm/Bertus

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Matthias Siehler, 26.11.2022, RONDO Ausgabe 6 / 2022



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