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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Max Ott

HIDALGO Festival

Gegen alle Konvention

Neugierig und nachhaltig, so lautet das Credo des HIDALGO Kollektivs, das den Konzertbetrieb mit spartenübergreifenden Formaten aufmischt.

Neue Musik und experimentelle Konzertformate sind meist eine Angelegenheit für Eingeweihte und erhalten beim breiten Publikum leider nur selten jene Aufmerksamkeit, die den Künstlerinnen und Künstlern nach intensiven Vorbereitungen und viel investiertem Herzblut zusteht. Dass es aber durchaus Mittel und Wege gibt, Barrieren zu überwinden – und dies auch außerhalb engagierter Education-Programme – zeigt mittlerweile schon im sechsten Jahr das Festival HIDALGO, das von einem umtriebigen Münchner Kollektiv ins Leben gerufen wurde. Hier werden unter Schirmherrschaft von Christian Gerhaher nicht nur neue Aufführungsorte für klassische Musik aus mehr als sechs Jahrhunderten erschlossen, sondern die Kunst auch in die Stadt hinausgetragen.
„Street Art Song“ zählt dabei inzwischen zu den Fixpunkten im Programm. Kleine Pop-Up-Konzerte, bei denen Anfang September 15 Lied-Duos durch die Stadtbezirke der bayerischen Landeshauptstadt zogen und ihre Klaviere aufstellten, um spontane Kostproben ihrer Kunst zu geben. Wodurch Parkbänke oder Tische in Straßencafés sich auf einmal zu Plätzen in der ersten Reihe verwandelten. Schubert oder gar zeitgenössisches Liedgut könnten da natürlich – im Kontrast zum Repertoire der sonst in Fußgängerzonen auftretenden „Konkurrenz“ – durchaus zum Wagnis werden. Meist bleibt aber doch die Mehrheit der Passanten nach einem ersten verdutzten Blick neugierig stehen, um zumindest einer oder zwei der vorgestellten Kompositionen andächtig zu lauschen. Reaktionen, die auch die Macher von HIDALGO bestätigen. „Da gab es kleine Kinder, die fasziniert vor den Musikern auf dem Boden saßen“, wie Dirigentin und Mit-Gründerin Johanna Malangré zwischen den Proben für das multimedial aufbereitete Abschlusskonzert erzählt. „Aber auch Obdachlose, die anschließend zu einer Sängerin kamen und sich bei ihr bedankt haben, weil es etwas war, das sie so vorher noch nie erlebt hatten.“

Frischer Wind in Münchens Szene

Offenheit und der Mut, sich auf ein Publikum einzulassen, das sich nicht freiwillig zum Kartenkauf entschieden hat, sondern erst überzeugt werden muss, das sind für die teilnehmenden Musiker und Musikerinnen von HIDALGO Grundvoraussetzung. Und auch bereits im Namen des Festivals verankert, wie Malangrés Kollege Philipp Nowotny erklärt. „Es gibt ja das gleichnamige Schumann-Lied über diesen freiheitsliebenden spanischen Adeligen, der sich nicht um Konventionen schert und einfach sein Abenteuer sucht. Und genau in dem Geist wollten wir einen frischen Wind in die Münchner Szene bringen und vor allem dem Lied wieder neuen Raum geben. Weil es für uns einfach eine sehr spannende Kunstform ist, in der auf kleinstem Raum die wildesten Geschichten erzählt werden.“
Durch ein gutes Netzwerk in Münchens Alternativer Szene ergaben sich dabei schnell interessante Synergieeffekte. Konzerte in Clubs und Treffpunkten wie dem „Bahnwärter Thiel“, dessen Poetry-Slams in Kooperation mit HIDALGO bei „Song & Slam“ um eine musikalische Eben erweitert wurden. Wobei die Wortakrobatinnen und Reimschmiede clever die im romantischen Lied gepflegten Rollenbilder und Genderklischees hinterfragten. Denn das Kollektiv, das kreative Köpfe aus unterschiedlichsten Genres zusammenspannt, setzt sich von Anfang an immer wieder auch mit den großen Themen unserer Zeit auseinander. Wobei sich die unterschiedlichen Kunstformen nicht nur gegenseitig befruchten, sondern manchmal auch bewusst aneinander reiben.

In den Ring gestiegen

Einer dieser Kulturclashs war dabei auch der „Box-Salon“, bei dem Sopranistin Andromahi Raptis im wahren Sinne des Wortes mit Liedern von John Dowland und Kurt Weill in den Ring stieg. Ein Abend, an dem Weill durchaus seine Freude gehabt haben dürfte. Hatte er doch bereits in seiner konsum- und kapitalismuskritischen Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ einen Boxkampf vertont. Interessant war hieran vor allem die Tatsache, dass es sich beim „Box-Salon“ um eine Produktion handelte, die bereits beim Festival 2020 vom Publikum gefeiert wurde und sich inzwischen auch auf mehreren Gastspielen wandeln und reifen konnte. Getreu dem aktuellen Festival-Motto „Klassik Upcycled“ und dem Credo des Teams folgend, das das Prinzip der Nachhaltigkeit auf vielen Ebenen pflegt. Nicht nur beim Einsatz wiederverwendbarer Materialien und der Stärkung eines regionalen Musiker-Netzwerks. Auch in künstlerischer Hinsicht sollen hier spartenübergreifende Projekte mit divers aufgestellten Ensembles entstehen, die anders als viele performative Formate nicht nur für den Moment gedacht sind, sondern das Repertoire durch Ausgrabungen ebenso bereichern, wie mit neuen Kompositionen. Damit der Musikbetrieb auch in Zukunft nicht zum Museum verkommt.


Weitere Informationen:
www.hidalgofestival.de

Tobias Hell, 29.10.2022, Online-Artikel



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