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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Andreas Scholl (c) Salar Baygan

Arvo Pärt

Die Quintessenz der Musik

Das Wiener Morphing Chamber Orchestra feiert die spirituellen Klangwelten Arvo Pärts mit Sängerstars wie Countertenor Andreas Scholl.

Klack – klack – klack. Und noch einmal das Klangholz: klack – klack – klack. Mit diesen drei Klopfzeichen beginnt eine der sanftesten und zugleich geheimnisvollsten Hymnen, die im 20. Jahrhundert für Instrumentalensemble komponiert wurde. „Fratres“ lautet der Titel dieses Stücks. Und komponiert hat es Arvo Pärt. Wobei man sagen könnte: Er hat mit den Noten nur den Rahmen und die Struktur geliefert. Mit Geist und Seele müssen es die Interpreten füllen. Weshalb Pärt die Besetzung von „Fratres“ nicht genau fixiert, sondern offengelassen hat. „Für mich liegt der höchste Wert der Musik jenseits ihrer Klangfarbe“, so der estnische Komponist einmal. „Ein besonderes Timbre der Instrumente ist ein Teil der Musik, aber nicht der Wichtigste.“ Von „Fratres“ gibt es daher zahlreiche Fassungen. Etwa die berühmte für Violine und Klavier mit Gidon Kremer und Keith Jarrett. Mit der Version für Streichorchester und Percussion eröffnet hingegen jetzt das Wiener Morphing Chamber Orchestra seine Pärt-Hommage und mit all seinem reinen und weiträumig ausdehnenden Streicher-Zauber scheint „Fratres“ sich nun langsam von aller Erden- und Gedankenschwere zu lösen. So wie einst Charles Ives mit seinem Kultstück „The Unanswered Question“.
Pärts „Fratres“ gilt gleichermaßen schon lange als eine etwas andere Ikone der Moderne. Denn mit ihr schlug Pärt 1977 einen Weg ein, der alle Moden und Spielereien der Avantgarde hinter sich ließ und zum für ihn wahren Kern von Musik, von Klang führte. Nicht jeder war sofort von dieser radikal entschlackten, einfachen und von tiefem Glauben durchdrungenen Klangwelt begeistert.
Wenngleich Pärt daher bis heute auf den Hardcore-Festivals der Neuen Musik eine Art Persona non grata geblieben ist, so kann sich der mittlerweile 87-jährige Komponist andererseits über breitenwirksame, weil prominente Aufmerksamkeit nicht beklagen. Hélène Grimaud, das Kronos Quartet oder auch Paavo Järvi gehören zu seinen Fans. Und jetzt erweisen sogar zwei Sänger ihm ihre Reverenz, von denen man es nur bedingt bis gar nicht erwartet hätte. Es sind Countertenor Andreas Scholl sowie der französische Star-Tenor Roberto Alagna, die sich erstmals und zusammen eben mit dem Morphing Chamber Orchestra auf das Klangabenteuer ‚Pärt‘ eingelassen haben. So übernimmt Scholl in dem Programm mit seinen Vokal- und Instrumentalstücken die Solo-Stücke. Bevor er beim Hauptwerk des Albums, bei Pärts „Stabat Mater“, gemeinsam mit Alagna und der polnischen Sopranistin Aleksandra Kurzak zu hören ist.

Mit göttlichem Atem

„Dieses Album bringt vier starke künstlerische Welten zusammen“, fasst denn auch Dirigent und Orchestergründer Tomasz Wabnic die Grundidee zusammen. „Es sind Andreas Scholl, Arvo Pärt und auch Aleksandra Kurzak und Roberto Alagna, die hier ihre erste Aufnahme in diesem Repertoire singen. Der Wunsch, so unterschiedliche Stimmen und Charaktere einzuladen, mag auf den ersten Blick etwas verwirrend erscheinen, aber genau das ist der Hauptzweck unseres künstlerischen Ansatzes: Der Begriff ‚Morphing‘ bedeutet ein Zusammentreffen zweier Welten oder, wie in diesem Fall, die Wiedervereinigung verschiedener Menschen, die von unterschiedlichen musikalischen Horizonten und Wegen kommen, deren Begegnung ein ‚drittes Bild‘ entstehen lässt.“
Seit 2006 ist diese musikalische Beweglichkeit zum Markenzeichen des Morphing Chamber Orchestra geworden. So hat man mit Bobby McFerrin genauso zusammengearbeitet wie mit dem polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki. Mit einem Vivaldi/Piazzolla-Programm war man auch in Deutschland auf Tournee. Und zu den jüngsten diskografischen Highlights gehört eine Mozart-Aufnahme mit Aleksandra Kurzak.
Nun also Arvo Pärt. Wobei Tomasz Wabnic durchaus zugeben muss, dass „die Universalität seiner Musik schwer zu beschreiben und noch schwerer zu erklären ist. Sie liegt in ihrer Einfachheit und Klarheit, aber auch in der Tatsache, dass es ihr gelingt, uns sehr tief zu berühren und sehr komplexe Gefühle hervorzurufen. Dieses ‚Dazwischen‘ wollten wir mit dieser Aufnahme einfangen.“
Wenn es nun darum geht, auch die solistischen Vokalkompositionen des Wahl-Österreichers Pärt mit regelrecht göttlichem Atem zu singen, kann man sich dafür keinen idealeren Orpheus vorstellen als Andreas Scholl. Seine weiterhin makellos dahinströmende Stimme ist pures Glück. So auch im „Vater unser“, dessen Fassung für Stimme und Streichquintett er erstaufgeführt hat. Aus dem „Wallfahrtslied“ von 1984 macht Scholl eine dramatische Klage-Szene. Schon fast märchenhafte Züge besitzt hingegen die Brentano-Vertonung „Es sang vor langen Jahren“ – wobei so manche Streicherfiguren an die „Folk Songs“ von Luciano Berio erinnern. Zum Schluss dann tauchen die Musiker, die drei Vokalisten und das Morphing Chamber Orchestra, in die Seelentiefen von Pärts „Stabat Mater“ hinein. Und man ist sofort geneigt, diese jetzt weltersteingespielte Fassung für drei Solostimmen und Streichorchester für die vielleicht bewegendste aller bisherigen Versionen dieses Werks zu halten.

Neu erschienen:

Arvo Pärt: Stabat Mater u. a.

Aleksandra Kurzak, Roberto Alagna, Andreas Scholl, Morphing Chamber Orchestra, Tomasz Wabnic

Aparté/hm-Bertus

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Guido Fischer, 29.10.2022, RONDO Ausgabe 5 / 2022



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