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N° 1297
18. - 24.03.2023

nächste Aktualisierung
am 25.03.2023



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Vom Seriellen zum nach innen gewandten Dialog mit der Tradition: Valentin Silvestrov (85) © Stefan Man

Pasticcio

Aus der Heimat geworfen

Nicht nur seinen Lebensabend hat sich Valentin Silvestrov ganz anders vorgestellt. Auch seinen 85. Geburtstag hätte er jetzt, am 30. September, liebend gerne zu Hause, in Kiew gefeiert und nicht in der Fremde, in Berlin. Aber die Lage in seiner ukrainischen Heimat war für ihn und Teile seiner Familie nicht mehr sicher. Und so musste er wie viele seiner Leidensgenossen und Landsleute mit wenigem Hab und Gut die Flucht antreten, um in Berlin von einer guten Freundin aufgenommen zu werden. Seitdem ist Silvestrov ein gefragter Mann. Als der bekannteste Komponist seines Landes ist er auch bei den Nachrichtenredaktionen ein begehrter Gesprächspartner. Und seine Werke werden allerorts aufgeführt, von Berlin und seinen Philharmonikern bis hin nach New York, im Rahmen eines Benefizkonzerts an der MET. „Es ist ein trauriges Paradox, dass der Krieg in der Ukraine Silvestrovs Musik zu großer Berühmtheit verhilft“, hat denn auch die Berliner Freundin Tatjana Frumkis kürzlich gegenüber der „Neuen Züricher Zeitung“ das plötzliche Interesse kommentiert.
Urplötzlich ist Silvestrov damit aber auch in einer Schublade gelandet, aus der er sich stets herausgehalten hat. Als „politischer Komponist“ hat er sich nie verstanden. Selbst nicht in jenen Zeiten unter dem Sowjetstern, als man als ambitionierter Komponist rasch von den Kultur- und Kunstrichtern auf eine schwarze Liste gesetzt werden konnte. Dabei gehörte der in Kiew geborene und bei Boris Ljatoschinski ausgebildete Silvestrov in den 1960er Jahren zu einer Gruppe von Wagemutigen, die sich intensiv mit den westlichen Avantgarde-Strömungen, mit Serialismus und Aleatorik beschäftigten. Silvestrov muss dabei Beachtliches geschaffen haben. Immerhin zählten Pierre Boulez, Bruno Maderna und selbst Theodor W. Adorno zu seinen Fürsprechern.
Doch diese Phase liegt schon weit zurück. Längst lautet Silvestrovs Credo: „Ich schreibe nicht neue Musik, meine Musik ist Antwort und Echo auf Vorhandenes.“ Und zu diesen musikalischen Fundstücken gehören etwa auch Mozart- und Mahler-Zitate, die er in seine Werke nicht aus rein retrospektiver Lust verarbeitet, sondern zum Teil einer Klangwelt macht, die trotz ihrer auch (tonalen) Eingängigkeit und Intimität eine stets aufwühlende Kraft und Unruhe ausstrahlt.
Im vergangenen halben Jahrhundert ist so ein beachtlicher Werkkorpus entstanden, der von Klavierstücken über große Orchesterwürfe bis hin zu Totenmessen reicht. Und für dieses, noch lange nicht abgeschlossene Lebenswerk wird Valentin Silvestrov nun wenige Tage nach seinem 85. Ehrentag in Berlin mit dem OPUS-Klassik ausgezeichnet – mit der Begründung: „Es gibt wohl wenige Komponisten unserer Zeit, die fast allein für die Musik eines Landes stehen.“

Guido Fischer



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