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N° 1354
20. - 26.04.2024

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am 27.04.2024



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lautten compagney Berlin (c) Ludwig Olah

lautten compagney Berlin

Hummeln im Hintern

Die Berliner lautten compagney gibt keine Ruhe – als nächstes mit barockmusikalischen Programmen über Rahel Varnhagen und Liselotte von der Pfalz.

Wird Bach überschätzt?! Der Größte von allen, ein Gott der Musikgeschichte, war völlig aus der Mode, bevor er im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde – von Felix Mendelssohn Bartholdy. Noch dessen (unweit in Berlin wohnende) Zeitgenossin, die kluge Rahel Varnhagen, mokierte sich angesichts der Wiederaufführung der „Matthäus-Passion“ 1829 darüber, wie „langweilig“, textlich „bizarrst“ dieses Werk sei. Sie erkannte in Bach den „großen Architekten“. Fand es aber schrecklich, wenn er Texte „bemusikt“. Sie hatte ihn, kurz gesagt, bei einer gewissen Trockenheit, Verklausuliertheit ertappt.
Was nicht unbedingt heißen soll, dass die Varnhagen „ein Fan des Projekts ‚Bach ohne Worte‘“ gewesen wäre, womit das Ensemble vor sechs Jahren punktete.
Die Idee, sich in Wort-Musik-Programmen näher mit Varnhagen zu beschäftigen, ist dennoch goldrichtig. Sie bestätigt die Tatsache, welch ein unerhörtes dramaturgisches Füllhorn die lautten compagney immer wieder ausschüttet.
Damit sind nicht allein jene Alben-Projekte unter dem Motto „Zeitreisen“ gemeint, in denen man zuletzt Samuel Scheidt mit Erik ­Satie, Tarquinio Merula mit Philip Glass und Henry Purcell mit den Beatles verschwisterte. Nein, ihr Saisonthema „HEIMAT GESTALTEN“ greift tief in historische Wundertüten hinein – und variiert das Verhältnis von Ergründung und Erfindung von Heimat anhand großer, nur zur Hälfte bekannter Frauen der Kulturgeschichte.
Da gibt es etwa „Tweets aus ­Versailles“ über die Briefeschreiberin Liselotte von der Pfalz. Als Prinzessin am Hof Ludwig XIV. (zugleich Urgroßmutter von Joseph II. und ­Marie-Antoinette) schrieb sie nicht weniger als 60 000 Briefe. Schauspielerin Franziska ­Troegner („Charlie and the Chocolate Factory“) leiht den teilweise derben, dialektal unverblümten Stellen ihre Stimme. Die lautten compagney spielt dazu Jean-Baptiste Lully, Marc-Antoine Charpentier und Marin Marais (22.9. Grevenmacher, Moselmusikfestival, 2.10. Halle, 16.11. Pirmasens).
In „Winterreisen“ lässt Lautenist und musikalischer Leiter Wolfgang Katschner Autoren anderer Kulturen und Länder zu Wort kommen, die auf Deutsch schreiben; etwa ­Melinda Nadj Abonji, Wladimir Kaminer, Herta Müller und Saša Stanišić. Dazu gibt es Choräle und Instrumentalmusik von Michael Praetorius und Heinrich Schütz (26.11. Ehingen, 27.11. Halle, 8.12. Fulda).
Im eingangs erwähnten, Rahel Varnhagen gewidmeten Programm „Vom Singen in Gedanken“ schließlich geht es um Schätze aus deren privater Musikbibliothek (heute in Krakau). Der musikalische Kontrast zum Witz der Texte soll zeigen, wie ernst es Varnhagen mit der ‚heiligen Musik‘ war: „Gewöhnlich ist Plappern bei mir Behelf für den Abend ... Über Musik aber spreche ich nie als im Ernste.“ Es liest ­Margarita Breitkreiz (22.10. Theater am Rand, ­Oderaue, 23.10. Jüdisches Theaterschiff MS Goldberg, Anleger Potsdam, 30.10. Mendelssohn-Remise Berlin).
Die drei Dutzend Konzerte, Opern- und Theateraufführungen und Wort-Musik-Programme, in denen die lautten compagney bis Ende des Jahres von Rüdersdorf bis Wien, von Hagen am Teutoburger Wald bis Winterthur Konzertlandschaften durchkämmt – und als solche wieder auffindbar macht –, bestätigen den Ruf: dass dieses Ensemble kreative Hummeln im Hintern hat. Der Laden brummt.

Weitere Infos unter:
www.lauttencompagney.de

Guido Fischer, 03.09.2022, RONDO Ausgabe 4 / 2022



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