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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Castronovo, Yoncheva in „La bohème“ (c) Tristram Kenton

Royal Opera House

Oper zum Hinfläzen

Antonio Pappano dirigiert Opern im Kino – als Marktführer vom Londoner Covent Garden. Zusehen mag er sich dabei nicht.

„Ich habe noch nie im Leben eine Oper im Kino gesehen“, gibt Antonio Pappano, Chefdirigent des Royal Opera House in Covent Garden, offen zu. Tut nichts. Er ist trotzdem der weltweit profilierteste Dirigent, der regelmäßig Oper fürs Kino dirigiert. Den Trend dazu hat er selbst befördert, ja entscheidend mit auf den Weg gebracht. Immer mehr Leute lassen sich vom Besuch ihres Stadttheaters abbringen und gehen lieber ins Kino, um große Oper live zu erleben. „Es ist eine reelle Sache“, findet Pappano – und muss es vermutlich finden.
Überall im Land ist das Mode. Mit aktuell dreizehn Produktionen, davon knapp die Hälfte Ballett, haben die Londoner die Nase vorn im Wachstumssegment. Vor über zwölf Jahren hatte die Metropolitan Opera das Format erfunden. Dort ist man gleichfalls sehr erfolgreich mit den Live-Streams; nur dass zu Hause im Lincoln Center derweil die Sitzreihen fatal leer bleiben. „Dieses Problem haben wir nicht“, so Pappano über die Situation in London, damals noch vor der Pandemie! Aber auch danach hat man sich hier viel besser berappelt als in den USA. „New York ist einfach zu teuer geworden. Die Leute, die früher aus New Jersey oder Connecticut im Parkett saßen, können sich das heute einfach nicht mehr leisten.“
Ein Kinobesuch dagegen kostet nur den Bruchteil einer guten, regulären Opernkarte. Oft allerdings doppelt so viel wie ein normaler Kinobesuch. Dabei ist ein Opernabend per Leinwand und Stream nicht dasselbe wie im Plüschparkett eines alteingesessenen Operntempels. Das hat nicht nur damit zu tun, ob man Popcorn futtern darf oder nicht. Im Kino sieht man mehr Details als vom mittleren bis hinteren Sperrsitz eines Opernparketts aus. Auch die Stimmung im Kino ist anders. Aufführungen wie etwa der letzte „Tannhäuser“ bei den Bayreuther Festspielen wurden zwar live vor Ort ausgiebig belacht; während die Leute im Kino ganz ruhig blieben und den Witz gar nicht entdecken konnten. Der allergrößte Unterschied liegt aber freilich in der technischen Wiedergabe. „Wir müssen dafür sorgen, den Stimmen optimale Resonanz zu geben“, so Pappano über die verwendeten Sound-Systeme und Kompressoren. Das ist aber gar nicht so untückisch.

Teil von etwas Größerem

Es bedeutet im Klartext: Die Stimmen werden bei der Übertragung aufpoliert, erst komprimiert, also zusammengedrückt, und dann wieder aufgeblasen. Sie klingen perfekter als in echt. Das kann die Ergebnisse ziemlich verzerren – gelegentlich sogar zum Vorteil der Sänger, welche stimmlich runder klingen als in Wirklichkeit. Währenddessen komme man „durch Close-ups den Sängern näher als durch jedes Opernglas“, meint Pappano. Man kann als Zuschauer bei den großen Gesangstönen eine Mandeluntersuchung gleich mit vornehmen.
Pappano dirigiere sogar anders, sagt er, wenn die Kamera auf ihn gerichtet sei. Und ist nicht der Einzige, auf den das wirkt. „Wenn eine Vorstellung im Kino gezeigt wird, erzeugt das nicht nur bei mir, sondern im ganzen Haus eine ganz eigene, andere Elektrizität. Der Adrenalinausstoß ist höher.“ Alle, einschließlich des Publikums, merken, dass sie „Teil von etwas Größerem sind“. Ist das nicht doch vielleicht etwas übertrieben? Kaum. Durchs Kino wird die Aufführung weltweit.
Auch die Rezeption hat sich so verändert. Da das Fläzen im Kino eine bequemere Sache ist als verkrampftes Sitzen im Klappsessel, haben Bequemlichkeitsstandards ihren Einzug gehalten, die mit einem ‚festlichen Opernabend‘ kaum noch zu vergleichen sind. Der Autor gesteht, dass er wohl nie wieder eine grässliche Bayreuth-Premiere vor Ort absitzen wird, wenn er sie zeitversetzt viel bequemer im Berlin-Steglitzer Titania-Palast genießen kann – und in den lange Pausen sogar kurz nach Hause geht.
In der aktuellen Saison zeigt man aus London Robert Carsens neue „Aida“ mit Elena Stikhina (die die Titelrolle dieses Jahr auch in Salzburg sang), außerdem mit Francesco Meli und dem wohl besten Verdi-Sänger der Gegenwart, Bariton Ludovic Tézier (als Amonasro, 21.10.). Tézier ist auch in Pappanos „Il Trovatore“ dabei (neben Yusif Eyvazov in der Titelrolle, 13.6.23). Der Chef dirigiert außerdem noch Andrei Serbans Inszenierung von Puccinis „Turandot“ (mit Anna Pirozzi und Yonghoon Lee, 22.3.23). Schließlich gibt es noch „La bohème“, glanzvoll besetzt mit Ailyn Pérez, Juan Diego Flórez und Danielle de Niese (20.10.). Der junge venezolanische Dirigent Rafael Payare leitet einen mit Bryn Terfel (als Don Basilio) spektakulär besetzten „Il Barbiere di Siviglia“ (Inszenierung: Moshe Leiser/Patrice Caurier, mit Aigul Akhmetshina, Lawrence Brownlee u. a., 15.2.23).
Den feierlichen Spielzeitauftakt bildet eine (gleichfalls von Leiser/Caurier inszenierte) „Madama Butterfly“ mit Maria Agresta und Joshua Guerrero. Den überlässt Pappano ausnahmsweise dem in den USA sehr erfolgreichen Nicola Luisotti (27.9.). Die sechs Ballett-Produktionen bieten mehrheitlich Klassiker wie „Der Nussknacker“ (8.12.), „Cinderella“ (12.4.23) und „Dornröschen“ (24.5.23). Hinzu kommen moderne Choreografien wie „Mayerling“ (über den Tod des österreichischen Thronfolgers Kronprinz Rudolf, 5.10.), und Christopher Wheeldons „Like Water for Chocolate” (nach dem Roman der mexikanischen Schriftstellerin Laura Esquivel, 22.12.).
Beim Ballett hält sich Pappano selbst allerdings raus. So wie die meisten Chefdirigenten, die Tanztheater lieber ‚Spezialisten‘ überlassen (in Wirklichkeit gilt das Fach schlicht und ergreifend als undankbar). Stehen Dirigenten mit Tanz am Ende vielleicht gänzlich auf Kriegsfuß? Wohl möglich. Pappano etwa kann sich selbst nicht einmal dirigieren sehen, ohne Mängel und Defizite zu erkennen. „Ich kann es nicht aushalten, mich selbst anzuschauen“, sagt er ehrlich über die Situation, wenn er sich bei Kino-Übertragungen beobachtet. „Man tänzelt herum. Ist aber kein guter Tänzer.“ Damit hat er die Schwäche fast aller Dirigenten lässig auf den Punkt gebracht. Zwar gilt alle Musik irgendwie als Tanzmusik – und darf nicht ‚trotten‘. Dirigenten aber sind fast grundsätzlich schlechte Tänzer. – Gibt es Ausnahmen? Bitte melden!

www.rohkinokarten.com

Heißer Kandidat

Antonio Pappano, geboren 1959 in Epping (nordöstlich von London), gilt als einer der profiliertesten Opern-Dirigenten der Welt. Seit zwanzig Jahren ist er Musikdirektor des Royal Opera House, Covent Garden; davor war er in derselben Funktion beim Brüsseler Opernhaus La Monnaie tätig. Vor einigen Jahren galt er als heißer Favorit für die Petrenko-Nachfolge an der Bayerischen Staatsoper, entschied sich aber gegen das deutsche Repertoiresystem. Aktuell steht er auf der Agenda als möglicher Generalmusikdirektor an der Berliner Staatsoper – als Nachfolger seines auf unbestimmte Zeit im Amt bleibenden Lehrers Daniel Barenboim. Pappano ist verheiratet und lebt in London.

Robert Fraunholzer, 03.09.2022, RONDO Ausgabe 4 / 2022



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